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Wolfram Stäps

Binnenschiffer, Schulleiter, Vorsitzender eines Kunstvereins. Drei Tätigkeiten, die außer Wolfram Stäps wahrscheinlich nur wenige in einem Leben ausgeübt haben. Der gebürtige Hallenser setzt sich schon seit DDR-Zeiten für geistig behinderte Kinder in Magdeburg ein. Im Interview mit Inter.Vista erzählt er, wie er zu seinen vier Studienabschlüssen kam, warum an seiner Schule früh mit Sexualerziehung angefangen wird und wie er auf dem Weg zum Feierabendbier seine Berufung fand.

Interview und Fotos: Julia Adam

Herr Stäps, außer dass die Wörter ›Binnenschiffahrt‹ und ›Behindertenschule‹ mit dem gleichen Buchstaben beginnen, haben diese Felder nichts gemeinsam. Dennoch liest man beides in Ihrer Vita. Wie kommt das?
Mit 16 Jahren schloss ich die Schule ab und sollte einen Beruf erlernen. Wie viele andere junge Menschen auch, wusste ich nicht genau, was ich werden wollte. Mir wurde eine Adresse einer Ausbildungsstätte genannt, wo ich mich melden sollte. Auf dem Weg dorthin, entlang der Saale, las ich ein Schild: »Ausbildung zum Binnenschiffer«. Das fand ich spannend und ich dachte mir, ›gehste da erst mal rein‹. Ich hatte schon immer eine Affinität zum Wasser, ging gerne wasserwandern als junger Mann. Ich stellte mich vor und sie nahmen mich. Somit ging es für mich von Halle nach Kleinmachnow, wo die Ausbildungsstätte war. Dort lernte ich das Binnenschifferhandwerk. Letzten Endes war es reiner Zufall, wie es so oft im Leben ist.

Und wie sind Sie dann zur Arbeit mit Behinderten gekommen?
Zufall. Wir hatten in Magdeburg mit unserem Boot im Zollhafen Station gemacht und dort gearbeitet. Abends ging ich als Binnenschiffer gerne ein Bier trinken. Auf dem Weg dahin fand ich in Cracau eine Einrichtung, da stand drauf »Schulbildungsunfähige, Förderungsfähige, Intelligenzgeschädigte«. Das war eine Tagesstätte, die dem Gesundheitswesen der DDR unterstand. Da waren die sogenannten geistig behinderten Kinder untergebracht. Diese Kinder unterstanden nicht dem Bildungs- sondern dem Gesundheitswesen. Ärzte entschieden darüber, was mit geistig behinderten Kindern geschah. Lehrer oder Schulen gab es für sie nicht. Das interessierte mich sehr, weil ich durch meine Arbeit auf dem Schiff einen jungen Mann kennengelernt hatte, der im Rollstuhl saß und kaum sprechen konnte. Das hatte mich berührt. In dieser Nacht dachte ich, guck dir das irgendwann nochmal an. Ich ging dann zu dieser Tagesstätte, fragte, was das denn für Kinder seien. Mir wurde das kurz erklärt, dann wurde ich zu einer Gruppe geführt. Beim Umgang mit den Kindern merkte ich: Das ist es, was ich machen möchte. Das ist meine Berufung. Einen Tag später fuhr ich zur Zentrale nach Kleinmachnow und kündigte.

»Ich finde Fehler gut. Ich finde Lebensbrüche gut, weil dann immer wieder wieder umgedacht wird.«

Sie haben Ingenieurpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Kunstpädagogik sowie Philosophie und Ethik auf Lehramt studiert. Warum so viele Studiengänge?
Schon als ich noch Binnenschiffer war, wusste ich, dass ich auch mit jungen Leuten arbeiten kann. Da bot es sich an, dass ich in Magdeburg Ingenieurpädagogik studieren konnte. Nach vier Jahren an der Elbe ging ich wieder an meine Kleinmachnower Betriebsschule und war dort Lehrausbilder für Binnenschiffer.

Haben Sie all diese Studiengänge abgeschlossen?
Ja, das habe ich. Als ich drei Jahre in dieser Tagestätte gearbeitet hatte, gab esvon dort das Angebot, an der Humboldt-Universität zu studieren. 1988 fing ich das an. Nach der Wende ging ich nach Westberlin und ließ mich dort zum Lehrer für Schüler mit geistiger Behinderung ausbilden. Das gab es in der DDR nicht. 1991 kam ich als Diplompädagoge zurück nach Magdeburg. Der Teil mit den intelligenzgeschädigten Kindern war noch aus der DDR und die anderen Abschlüsse habe ich nach und nach an der Freien Universität in Westberlin gemacht.

Wie ging es dann im wiedervereinigten Deutschland für Sie weiter?
Nach der Wende hieß es plötzlich, dass auch diese Kinder ein Recht auf Schulbildung haben. Da fragte man in Magdeburg, wer sowas schon mal gemacht habe. Ich sagte, dass ich die Ausbildung dazu hätte und dass ich schon mit geistig behinderten Kindern arbeite. In der Nachwendezeit war ja alles möglich. So stellte man mir mit den Worten »suchen Sie sich da welche aus« einen großen Karton mit den Akten aller geistig behinderten Kinder in Magdeburg auf den Tisch. Anarchie kann auch etwas Unkompliziertes sein. Ich schaute dann, wo die alle untergebracht waren. In der Tagesstätte war nur ein Drittel. Der Rest war zuhause, in der Psychiatrie, in Krankenhäusern und Kinderheimen. Wir gründeten die Schule, holten sie da raus. Zu dem Zeitpunkt fing ich an, als Schulleiter zu wirken. Das war eine der ersten Schulen für geistig Behinderte in Ostdeutschland.

Und wie kam es letztlich dazu, dass sie Kunstpädagoge wurden?
Nach dem Aufbau der Schule suchte man händeringend Pädagogen, die eine Kunstausbildung haben. Solche gab es zu DDR-Zeiten nur wenige. Da habe ich mich beworben und berufsbegleitend Kunstpädagogik studiert.

»Die Schulbildung ist nicht so wichtig, die Bildung als Mensch ist wichtiger.«

Interessierten Sie sich schon vorher für Kunst?
Ja, schon immer. Ich komme aus einer einfachen Arbeiterfamilie, aber ich wohnte als junger Mann in der Nähe der Kunsthochschule Burg Giebichenstein. Dort sah ich immer die Studenten reingehen, mit einer großen Mappe unterm Arm. Das fand ich toll. Als ich dort angenommen wurde, kaufte ich mir zuallererst so eine Mappe und ging damit durch den Haupteingang. (lacht) So was muss man mal machen, das ist wichtig im Leben. Und so kam das mit der Kunst. Später studierte ich noch Ethik und Philosophie auf Lehramt.

Also haben Sie insgesamt vier Studienabschlüsse?
Ja, das darf ich meinen Söhnen immer nicht sagen, sonst kriegen die gleich wieder ʼne Krise. (lacht)

Sie sind nicht nur Schulleiter, sondern auch Vorsitzender des Zinnober-Kunstvereins. Was ist anspruchsvoller, die Schule oder der Kunstverein?
Die Schule ist anspruchsvoller. Das habe ich mir bewusst so erschaffen. In der Schule geht es nach Gesetzen und Erlassen. Da muss ich ganz korrekt sein. Im Kunstverein sind die Künstler Erwachsene und haben eine Begabung. Ich sehe uns mehr als Künstlergemeinschaft. Wir sind gleichberechtigt und arbeiten zusammen. Ich mache dort keine Kunstpädagogik, ich mache keine Kunsttherapie. Die kommen mit einer Begabung und die lasse ich so, wie sie ist. Kunst braucht Freiraum, den lasse ich hier auch für mich.

Inter.Vista, Wolfram Stäps, Foto: Julia Adam

Inter.Vista, Wolfram Stäps, Foto: Julia Adam

Sie sind im Kunstverein also kein Lehrer, sondern selbst Vereinsmitglied.
Genau, ich male hier auch. Wir sind zwölf Künstler und drei haben keine geistige Behinderung. Wir arbeiten alle gleichberechtigt. Wenn man so will, ist es eine Künstlerkommune.

Gibt es denn auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Tätigkeiten?
Ich versuche das wirklich sehr strikt zu trennen. Denn der Verein wird ausschließlich durch Spenden finanziert, die Schule ist staatlich, also aus Mitteln der Stadt und des Landes finanziert. Und genau deswegen möchte ich das auch nicht vermischen. Damit keine Unklarheiten bei den Kollegen, bei den Künstlern oder bei mir entstehen.

In der Öffentlichkeit ist oft von dem Begriff ›Inklusion‹ die Rede, also der Einbindung von behinderten Menschen in den Alltag. Inwieweit ist das in Deutschland gegeben?
Ich denke, die Inklusion ist nicht mehr aus der Welt zu bringen und das ist gut so. Wirkliche Inklusion bräuchte aber eine Bildungsreform. Beispielsweise, dass junge Lehramtsstudenten grundlegend in ihrem Studium Inklusion und Behindertenpädagogik lernen. Aber viele Studieneinrichtungen vermitteln das noch gar nicht. Es kann nicht sein, dass Menschen segregiert, ausgesondert werden. Der Kindergarten lebt es vor. Heißt: Dafür müsste man eine Schullandschaft aufbauen, die die Kinder nicht schon in der fünften Klasse trennt. Da bräuchte man Gemeinschaftsschulen, die bis zur zwölften Klasse gehen. Man bräuchte auch ein entsprechendes Schulgelände. Das sehe ich alles, seit ich Beratungslehrer im Förderzentrum bin und gerufen werde, wenn im gemeinsamen Inklusionsunterricht Probleme auftreten.

Was sind da die größten Probleme?
Jede Schule kriegt einen Inklusionspool. Sind also 100 oder 200 Kinder in der Grundschule, kann man zwei Förderlehrer einstellen. Die sind dazu da, den Kindern im gemeinsamen Unterricht zu helfen. Aber in diesem Erlass steht auch drin, dass die Schule den Förderlehrer für den regulären Unterricht einteilen darf, wenn ein anderer Lehrer ausfällt. Wenn es Langzeiterkrankte gibt, macht der Förderlehrer eben keinen Förderunterricht, sondern Unterricht in der Klasse. Das ist ein Hauptproblem.

Apropos Inklusion: Sie sind gebürtiger Hallenser. War es schwierig, sich in Magdeburg zu integrieren?
Nein. (schmunzelt) Schwierig wird es, wenn der HFC gegen den FCM spielt. Dann weiß ich nicht, was ich machen soll. Meine Hallenser und Magdeburger Freunde fragen mich dann, zu wem ich denn stehe. Am besten gehe ich an dem Tag nicht ins Stadion.

»Und jetzt haben die Leute was zu meckern, ist das nicht toll?«

Sie leben in Stadtfeld. Was gefällt Ihnen da besonders gut?
Der Schellheimer Platz gefällt mir gut. Vor allem, wenn er am Wochenende voll ist. Lauter Kinder und junge Eltern. Das erinnert mich an meine Kinder, die nun schon erwachsen sind. Da ist es voller Leben und das gefällt mir sehr.

Die Baustelle gefällt Ihnen wahrscheinlich eher nicht so.
Ach, das sehe ich nicht als Problem. Im Gegenteil: Ich finde Veränderungen immer gut. Ich finde Fehler gut. Ich finde Lebensbrüche gut, weil dann immer wieder umgedacht wird. Und jetzt haben die Leute was zu meckern, ist das nicht toll? (lacht) Irgendwann ist die Baustelle fertig und alle freuen sich.

Werden Künstlern in Magdeburg eigentlich viele Steine in den Weg gelegt?
Welcher Weg? (lacht) Magdeburg ist traditionell eine Arbeiterstadt. Den Menschen hier steht der Sinn nicht so nach Kunst. Das kommt ganz langsam. Magdeburg hat glücklicherweise unwahrscheinlich gute Künstler. Deswegen bin ich froh, dass sich eine Szene entwickelt, in Buckau zum Beispiel. Wenn ich nach Halle fahre, merke ich allerdings den Unterschied zu der Kunstszene, die es dort schon seit 100 Jahren gibt. Magdeburg entwickelt sich und unterstützt die Kunstszene, indem es Kunstpreise ausstellt. Auch die Sparkasse unterstützt Künstler und die Tessenow-Garagen. In den Ateliers können wir wirken mit unserer Outsider-Kunst. Und mal sehen, was sich durch das Projekt Kulturhauptstadt 2025 alles tut.

Hat auch der Zinnober e. V. Projekte, um den Menschen Kunst näher zu bringen?
Wir bringen Kunst allein dadurch näher, dass wir mitten in der Beims-Siedlung sitzen, eines der größten Flächendenkmäler der Architektur in Magdeburg. Ich weiß noch, wie man die Treppenhäuser wieder in Farbe gestaltete. Grüne Türen, knallrote Decken, schwarze Treppengeländer. Die Leute beschwerten sich über zu moderne Farben. Welche modernen Farben? Wir hatten die Originalfarben von 1922 genommen. Dass wir hier unser Atelier haben, ist ein Beitrag.

»Magdeburg ist traditionell eine Arbeiterstadt . Den Menschen hier steht der Sinn nicht so nach Kunst.«

Von der Künstlerfreundlichkeit zur Behindertenfreundlichkeit. Ist Magdeburg behindertenfreundlich?
Sehr. Jedes Kind hat einen Platz in der Schule, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung. Nach der Schule gibt es zwei große Werkstätten, die WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen, Anm. d. Red.) und die der Pfeifferschen Stiftungen. Beide machen eine tolle Arbeit. Damit ist Magdeburg sehr gut aufgestellt. So eine soziale Absicherung gibt es global sonst kaum.

Was inspiriert Sie in Magdeburg?
Die Elbe. Da ist es von Vorteil, dass ich kein gebürtiger Magdeburger bin. Magdeburger sind oftmals ein bisschen mit ihrer eigenen Stadt im Unreinen. Die sehen die Elbe als Verkehrshindernis. Gott sei Dank entdecken die jungen Leute immer mehr die Elbe. Die Elbe inspiriert mich, weil ich dort mit meinen Kindern immer angeln war.

Inter.Vista, Wolfram Stäps, Foto: Julia Adam

Inter.Vista, Wolfram Stäps, Foto: Julia Adam

Wie wichtig ist es in der Kunst außerhalb der Norm zu denken?
Es gibt einen schönen Satz. Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere. Das ist für mich der grundlegende Kunstbegriff. Jeder Künstler will außergewöhnlich sein. Da bringen unsere Künstler durch ihre Andersartigkeit im positiven Sinne von vornherein etwas Eigenes, Besonderes mit. Bei unseren Ausstellungen sind Besucher mit akademischer Kunstausbildung oft hoch fasziniert von dieser Art Brut, dieser Kunst aus dem Bauch heraus. Dabei fördern wir vor allem die, die ein Talent, oder ›die Brisanz in ihren Bildern‹ haben, aufgrund ihrer geistigen Behinderung aber nicht studieren können.

Mögen Sie lieber moderne Kunst oder eher die alten Meister?
Beides. Ohne die alten Meister gäbe es die moderne Kunst nicht.

Nochmal zum Kunstverein: Klein Zaches, genannt Zinnober, ist eine Figur aus der Romantik. Sind Sie ein Romantiker?
Wer Binnenschiffer war, muss Romantiker sein. Die Augenblicke auf dem Wasser waren die romantischsten meines Lebens.

Sind Ihre Kinder auch künstlerisch veranlagt?
Wir sind eine Patchworkfamilie. Insgesamt sind es fünf Kinder. Mein großer Sohn ist künstlerisch sehr interessiert und mein kleiner hat überhaupt kein Interesse. Die Mädchen sind immer sehr fasziniert davon, was ich mache. Aber keiner malt selbst.

Sie sind Lehrer. Was wollten Sie ihren Kindern unbedingt mitgeben?
Die höchstmögliche Selbstständigkeit in der sozialen Integration. Auch für unsere Schüler ist dies das Wichtigste. Wenn sie lesen und schreiben, aber sich nicht die Schuhe zubinden können, haben wir etwas falsch gemacht. Bei meinen eigenen Kindern ist es die Liebe zueinander, die Achtung vor anderen Menschen und um die Einmaligkeit des Lebens zu wissen. Einer meiner Söhne ist ein bisschen legasthenisch veranlagt. Aber die Schulbildung ist nicht so wichtig, die Bildung als Mensch ist wichtiger.

Sie sagten bereits, dass Sie mit Ihren Kindern immer am Fluss angeln waren. Ist die Elbe denn noch dieselbe?
Sie ist sogar noch schöner geworden. Zu DDR-Zeiten wurde sämtliche Chemie in die Saale und die Elbe gekippt. Die waren so verdreckt, dass kein einziger Fisch mehr drin war. Wenn man darin baden gegangen wäre, hätte man keine Haare und Fingernägel mehr gehabt. Weil die Elbe jetzt so schön sauber ist, ist sie noch viel besser geworden, als sie einmal war.

Mai 2017
Interview aus INTER.VISTA 4

Vista.Schon?
Wolfram Stäps leitet nicht nur den Kunstverein Zinnober e.V., er ist auch selbst als Künstler tätig. Wenn man ihn fragt, woran er Kunst erkenne, antwortet er ›am Kribbeln im Bauch‹. 1991 baute er mit der Förderschule Hugo Kükelhaus eine der ersten Förderschulen für geistig Behinderte in Ostdeutschland mit auf. Beim Lehrpersonal ist er der einzige Mann unter 44 Frauen. Seine Frau bezeichnet er als seine Muse. Seine Liebe zum Wasser lebte er in der DDR nicht nur als Binnenschiffer sondern auch durch wasserwandern aus.

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