Roland ›Franz‹ Jeske ist eine Institution in der Magdeburger Musikszene. Seit 25 Jahren betreibt er seinen Plattenladen Hot Rats, mit dem er in der Arndtstraße residiert. Mit Inter.Vista spricht er über das Plattensammeln in der DDR, geplatzte Träume und italienische Hausmannskost.
Interview und Fotos: Laura Rittler
Dein Vorname ist eigentlich Roland. Warum nennen Dich die Leute ›Franz‹?
Meine damalige Frau und Mutter meines tollen Sohnes hat sich das ausgedacht. Zu dem Zeitpunkt hatte ich einen richtigen Fransenbart und irgendwann wurde dann eben ›Franz‹ zu meinem Spitznamen, aber eigentlich nur in der Familie. In den ersten Jahren nach der Eröffnung haben wir den Laden gemeinsam betrieben. Da hat sie mich immer Franz genannt. Ich habe mich daran gewöhnt und meine Kunden auch. Ich glaube, 90 Prozent der Leute, die schon seit 20 Jahren herkommen, wissen nicht, wie ich richtig heiße.
Kennst Du den Film High Fidelity?
(lacht) Das ist mein Lieblingsfilm. Ich erkenne mich darin richtig wieder und meine Stammkunden auch. Wir hatten sogar einmal die Idee, im Laden Kameras und Mikrofone aufzustellen. Was hier passiert, ist manchmal die reinste Freakshow. Damit könnte man zehn Filme drehen! Allein wegen der Musik und der alternativen Szene hat sich der Umzug gelohnt. In diesem Film wird ein gewisser Kult darum betrieben, wie der Protagonist seine Platten sortiert und dabei immer abstrusere Ordnungssysteme und Listen entwickelt.
Wie ist Deine private Sammlung sortiert?
Vor zehn oder 15 Jahren war sie alphabetisch sortiert. Aber meine Sammlung wurde häufig in Kisten verpackt, weil ich in meinem Leben etwa 15 Mal umgezogen bin. Es war immer ein einziges Rein und Raus, deshalb herrschte in meiner Sammlung nie wirklich Ordnung. Meine Platten alphabetisch zu sortieren, habe ich deshalb irgendwann wieder verworfen und jetzt ist vieles einfach im Wohnzimmer auf dem Boden gestapelt. Ich sollte die Platten wohl einmal in mein Regal einsortieren, aber ich habe einfach keine Zeit dafür.
Was machst Du, wenn Du etwas Bestimmtes suchst? Greifst Du blind in den Stapel und fischst nach dem Zufallsprinzip eine Platte heraus?
Gezielt nach etwas zu suchen habe ich schon lange aufgegeben! Ganz grob ist meine Sammlung aber trotzdem sortiert. Vor meiner Musikanlage stehen die neuesten Platten aneinandergereiht, etwa 80 aus dem letzten halben Jahr. Weitere 30 oder 40 sind vor der Glasvitrine, in der ich meine Schätze aufbewahre, aufgereiht. Außerdem stehen drei oder vier Kisten hinter der Couch, jede mit jeweils etwa 100 Platten. Bei denen weiß ich ehrlich gesagt nicht ganz genau, was überhaupt drin ist.
»Allein wegen der Musik und der alternativen Szene hat sich der Umzug gelohnt.«
Erinnerst Du Dich noch an den Song, der Dein Interesse an Musik geweckt hat?
Ja! Der »Farbfilm« von Nina Hagen. Das war ein Knaller, ein Ohrwurm. Der Song war witzig und etwas ganz Neues für mich. Bei meinen Eltern lief Elvis, aber auch sehr viel Schlager, das hat mir gar nicht gefallen. Aber einen Schlager mochte ich doch: den »Badewannentango«. Das war auch ein Hit. Ja, den fand ich cool. (lacht)
Das heißt, bei Dir hat alles mit Nina Hagen angefangen.
Ja, mit ihr hat alles angefangen. Von ihr war auch meine erste Westplatte. Alben von DDR-Bands gab es ja zu kaufen, aber Westplatten waren schwer aufzutreiben. 1979 gab es dann allerdings schon kleine, illegale Plattenbörsen. Einmal fand auf einem Hinterhof eine kleine Platten-Kauf- und Tauschbörse statt. Der Veranstalter hatte eine Kiste, in der ungefähr 50 Platten gestapelt waren. Die meisten davon waren Westplatten. Mir ist die Kinnlade runtergeklappt, als ich das sah. Dort habe ich zum ersten Mal echte Platten von den Rolling Stones und den Beatles gesehen. All diese Rockplatten! Und da stand eben auch das erste Album von Nina Hagen, bei dem bin ich irgendwie hängen geblieben. Der Besitzer verlangte 130 Mark dafür, das war damals normal für Westplatten. Weil das Lehrgeld nicht reichte, musste ich mir dann einen Zehner leihen und war für den Rest des Monats pleite. Aber das Album war einfach der Kracher.
Wie war es, in der DDR ein Fan von Rockmusik zu sein?
Wenn eine neue, besondere Platte rauskam, haben meine Freunde und ich manchmal kleine, private Releasepartys veranstaltet und uns das Album alle gemeinsam angehört. Es war auch ganz normal, Platten auszutauschen und auf Kassetten zu überspielen. Man konnte sich ja nicht alles kaufen. Ich habe auch nicht alles, was ich kaufte, behalten. Manchmal habe ich Platten nach dem Kauf mit meiner Bandmaschine archiviert und dann weiterverkauft. Es sei denn, ein Album war so besonders, dass ich es einfach behalten musste, zum Beispiel die Platten von Frank Zappa oder eben Nina Hagen.
Hast Du die Sachen von damals noch?
Nein, leider nicht mehr. Zwischenzeitlich hatte mich dieses Medium ›CD‹ überzeugt. Ich mochte CDs, weil sie weniger Platz wegnahmen als Schallplatten und weil man sie im Auto hören kann. Deshalb verkaufte ich fast alle meine Schallplatten. Ich hatte dann zwar immer noch ein paar Platten, aber im Großen und Ganzen war das Thema für mich abgeschlossen.
Wann bist Du zur Schallplatte zurückgekehrt?
Damals sind viele Leute in meinen Laden gekommen und wollten ihre alten Schallplatten gegen neue CDs eintauschen. 100 Platten gegen fünf CDs. So billig hat man nie wieder Platten bekommen. Es war verrückt, die Leute wollten sie einfach nur loswerden. Einmal war auch eine große Sammlung von Frank-Zappa-Platten dabei. Der Besitzer wollte sie loswerden, weil auf den CDs mehr Material drauf war. Wir hatten uns gerade die Bonustracks auf der CD angehört und waren begeistert. Eine der alten Schallplatten hatte einen tiefen Kratzer, deshalb wollte ich mir auch diese eine Platte anhören, bevor ich sie annahm. Als ich sie auflegte fiel mir sofort auf, dass sie trotz Kratzer viel besser klang als die CD. Daraufhin habe ich die Sammlung mit Kusshand genommen und ab diesem Tag wieder angefangen, Platten zu sammeln.
Wie stehst Du als Verfechter der analogen Tonträger zu Downloads und Musikstreaming?
Hier im Laden nutze ich Spotify, um in Songs und Alben reinzuhören, damit ich die Verpackung nicht öffnen muss. Oder um mich einfach schlau zu machen, bevor ich etwas kaufe oder anderen Leuten empfehle. Für jemanden, der sich nur berieseln lassen oder informieren will, ist Streaming eine gute Sache, das will ich gar nicht abstreiten. Aber ich muss immer etwas in der Hand haben. Jeder Tonträger ist ja auch ein Kunstobjekt. Der Künstler macht sich schließlich auch über die Präsentation Gedanken. Er wählt ein Cover aus, er druckt die Texte ab, er möchte etwas damit sagen! Ich finde, das muss honoriert werden. Insgesamt ist das Schallplatten-Hören eben keine Nebensache, sondern ein ganz anderes, intensiveres Hören. Und abgesehen davon, kann der Klang von MP3s einfach nicht mit dem einer Schallplatte mithalten.
»Es war wie ein Tollhaus. Vier Läden unter einem Dach. Das war cool.«
Du hast Deine Jugend in Halle verbracht. Was hat Dich später ausgerechnet nach Magdeburg verschlagen?
Während meiner Lehre kannte ich jemanden, der in Burg lebte und regelmäßig nach Halle-Neustadt kam, weil seine Freundin dort wohnte. Abends trafen wir uns oft in einer Kneipe und er war ganz überrascht, dass ich noch nie in Magdeburg war. Deshalb lud er mich irgendwann zu sich ein. Im Interhotel am Bahnhof gab es damals eine Kneipe, die Pilsner Quelle. Als ich reinkam, saßen da 100 Leute. Alle mit langen Haaren, Bärten, Nickelbrillen und zerfetzten Jeans. Die sahen alle gleich aus – ich natürlich auch. (lacht) Ich fühlte mich sofort wie zuhause. Wir sind dann alle mit dem Bus in den Herrenkrug gefahren, wo oft Bluesbands spielten. Bei diesen Konzerten waren immer mehr als 500 Leute! Das hat mich beeindruckt. So etwas gab es bei mir zuhause nicht. Also beschloss ich, dass ich da hinziehen muss.
Also bist Du der Musik hinterher gereist?
Ja, und zwar mit dem Traktor. Acht Stunden hat das gedauert. Umzugsunternehmen, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Aber einer meiner Kollegen von der Baustellewohnte in einem Dorf und sein Nachbar hatte einen Traktor. Den haben meine Helfer und ich uns ausgeliehen. Ein Sofa, die Schallplatten, meine Anlage und eine Kiste Bier, mehr hatte ich nicht. Und so zog ich dann nach Magdeburg.
»Insgesamt ist das Schallplatten-Hören eben keine Nebensache, sondern ein ganz anderes, intensiveres Hören.«
Warum hast Du ausgerechnet in der Arndtstraße Deine Zelte aufgeschlagen?
Ursprünglich war mein Laden in der Wolfenbütteler Straße. Später bin ich mit Andrea, einer Freundin, die auch einen Laden hatte, in ein wunderschönes Gebäude in der Heidestraße umgezogen: ein quadratisches Backsteingebäude, ein richtiger Industriebau. Wir haben noch einen Piercer mit ins Boot geholt und dann kam noch ein weiterer Laden dazu, eine Teestube. Es war wie ein Tollhaus. Vier Läden unter einem Dach. Das war cool. Dort haben wir gemeinsam zehn Jahre verbracht, bis der Piercer in die Stadt zog, weil er mehr Kundschaft wollte. Es war eben doch ein ehemaliges Fabrikgebäude. Andrea wollte irgendwann raus aus dem Schmuddel-Image und hat sich in der Arndtstraße einen Laden gesucht. Ich war dann der letzte Mohikaner und bin hinterhergezogen.
Wolltest Du die Räumlichkeiten nicht allein weiterbetreiben?
Ich wollte da bleiben, hatte schon Pläne, wie ich das ganze Haus finanzieren könnte, aber dann sind meine zwei besten Mitarbeiter nach Berlin gegangen. Mit ihnen wollte ich im Untergeschoss Konzerte veranstalten. Wir hätten eine Bühne gebaut und eine Bar eingerichtet, aber dazu braucht man natürlich Leute, die auch am Wochenende arbeiten und auf die man sich verlassen kann. Und solche Leute hatte ich plötzlich nicht mehr. Ich zögerte ein halbes Jahr lang, dort auszuziehen, und zerbrach mir den Kopf, ob ich das Haus doch irgendwie finanzieren kann. Aber als MP3s immer beliebter wurden und die Leute anfingen, Musik zu downloaden, kam der finanzielle Einbruch. Ich habe dann gar nicht versucht, die Situation schönzureden. Den Laden konnte ich dort einfach nicht halten, also bin ich in zweckmäßigere Räumlichkeiten umgezogen. Cool finde ich es hier eigentlich nicht. Manche sagen zwar, es sei schön eingerichtet, aber der alte Laden war einfach viel cooler. Inzwischen bin ich seit fast zehn Jahren hier in der Arndtstraße. Die Zeit vergeht so schnell.
Du wohnst seit 1980 in Magdeburg. Wie hat sich die Stadt seitdem verändert?
Als ich damals aus Halle-Neustadt, wo alles neu war, hierher in diese graue, zerbröckelte Einöde zog, war ich schon etwas schockiert. Aber das war es mir wert! Allein wegen der Musik und der alternativen Szene hat sich der Umzug gelohnt. Dass jetzt einige der hässlichen Neubauten aus der City verschwunden sind, ist eine schöne Sache. Und auch, dass die Stadtmauer unten restauriert wurde und alles um den Dom herum, das Hundertwasserhaus. Das ist wirklich schön. Auch sonst hat sich Magdeburg verändert. Die Leute sind offener geworden. Damals war alles streng getrennt. Als ich den Laden eröffnete, da haben die Punks noch Punkrock und die Gruftis noch Grufti-Musik gehört. Das ist jetzt anders.
Gibt es auch Aspekte, die Dir heute fehlen oder die Dir damals besser gefielen?
Es gab nicht so viele Baustellen. (lacht) Diese Konzerte und die Blues-Szene, die vermisse ich schon. Die Leute sind älter geworden, viele sind nicht mehr da, manche sind blind, manche taub, manche tot. Dass hier nichts mehr ist, das ist schade.
»Als ich den Laden eröffnete, da haben die Punks noch Punkrock und die Gruftis noch Grufti-Musik gehört. Das ist jetzt anders.«
Hast du schon einmal überlegt, wegzuziehen? Irgendwohin, wo es eine aktivere Szene gibt?
Ich habe mal überlegt, nach Leipzig zu gehen, einfach, weil die Stadt so schön ist. Und ich kenne da viele Leute. Aber ich will nicht weggehen. Selbst, wenn ich meinen Laden nicht mehr hätte, gäbe es immer noch gut hundert Leute, die mir sehr ans Herz gewachsen sind, mit denen ich auch privat Zeit verbringe. Ich weiß gar nicht, zu welcher Party ich zuerst gehen soll. Das ist wirklich toll und ich will das nicht aufgeben.
Wie sieht Dein perfekter Feierabend aus?
Wenn ich den Laden verlasse, brauche ich erst einmal eine halbe Stunde Ruhe. Sobald ich zuhause bin, mache ich eine Flasche Wein auf und bereite das Abendessen vor. Ich verbringe auch gern mal ein oder zwei Stunden in der Küche. Dabei läuft dann meistens schon wieder Musik. Wenn dann alles passt, Essen und Wein schmecken, dann ist das für mich schon perfekt. Mehr brauche ich gar nicht – außer vielleicht die richtige Gesellschaft. Wenn meine Liebste mit am Tisch sitzt, ist alles perfekt. Ich bin kein Filmfreak. Ich sitze nicht um 20.15 Uhr vor dem Fernseher. Mein Satellitenreceiver stand drei Jahre lang neu verpackt im Schuhschrank, bevor ich das Ding endlich anschloss. Ich glaube, es war wegen einer Musiksendung auf ARTE. Aber ich gucke nicht jeden Sonntag Tatort.
Was kochst Du am liebsten?
Keine großen, verrückten Sachen. Ich habe schon alles an Pasta gemacht, was Jamie Oliver gemacht hat. (lacht) Ich lasse mir gern Zeit bei dem, was ich mache: eine schöne Scheibe Serrano-Schinken, dazu ein Rotwein und ein paar Oliven oder ein bisschen Käse vorneweg. Letzte Woche hatte ich zwei meiner Kunden und Freunde zum Abendessen eingeladen. Ich mischte Sardellenfilets mit Knoblauch, Peperoni und Petersilie, dazu gab es Pasta und einen schönen, kräftigen Weißwein. Und dann war die Welt in Ordnung.
Weißt Du auch Momente absoluter Stille zu schätzen?
Wenn ich morgens am Frühstückstisch sitze, läuft keine Musik. Da brauche ich ein bisschen Ruhe und überlege, was ich an dem Tag so alles machen muss. Aber auf die Dauer wird es schon komisch, so ohne Musik.
November 2016
Interview aus INTER.VISTA 3
Vista.schon?
Roland “Franz” Jeske, Jahrgang 1961, sagt von sich selbst, dass er eigentlich erst »mit dem Laden« geboren worden sei. Er ist ein erklärter Fan des avantgardistischen Musikers Frank Zappa, nach dessen zweitem Album Hot Rats er seinen Plattenladen benannte. In Halle-Neustadt geboren und aufgewachsen, betrachtet er Magdeburg bereits seit über 37 Jahren als seine Heimat. Neben seinem Plattenladen betreibt Franz Jeske außerdem das Independent-Label Hot Rats Records, das bereits sechs Tonträger veröffentlichte.
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