Posted by on

Giselher Quast

Giselher Quast weiß, was es heißt, Außenseiter zu sein. Als Pfarrerssohn und überzeugter Christ lebte es sich im DDR-Regime alles andere als einfach. Am Ende konnte ihm das System weder den Glauben an Gott noch den an die Menschen nehmen. Mit dem Magdeburger Domprediger Giselher Quast kommt ein unbequemer Humanist zu Wort, der früh lernte, wie wichtig Ideale im Leben sind.

Interview und Fotos: Jörn Zahlmann 

Herr Quast, wann waren Sie das letzte Mal so richtig wütend?
Schwierige Frage, gleich zu Beginn. Ich bin ein Mensch, der versucht, zu vermitteln. Wut gehört nicht zu meinen Stärken. Viel eher überfällt mich Trauer bei einigen Themen. Ich merke auch, dass ich mit dem Alter weitherziger werde. Sowieso ist das eine der größten Errungenschaften des Alters: Abzuwägen, ob sich das Verrücktmachen lohnt oder ob man seine Kraft nicht lieber in andere Dinge investiert. 

Woran merken Sie das zum Beispiel?
Ich war auch mal ein junger, wilder Pfarrer. Gerade zu DDR-Zeiten habe ich die Leute, die nur einmal im Jahr aus nostalgischen Gründen an Heiligabend in die Kirche gingen, scharf auf’s Korn genommen. Heute greife ich bei Gottesdiensten niemanden mehr an. Ich denke mir nämlich: Gerade wenn die Leute nur einmal im Jahr in die Kirche kommen, müssen Sie eine Botschaft erhalten, die sie trifft und zum Nachdenken anregt. Das Wichtigste ist doch, die Menschen zu erreichen.

Zurück zum Thema Wut. Was haben Sie gefühlt, als Sie von den Anschlägen in Paris erfuhren? 
Wut ist hier das falsche Wort. Mich beschämt sehr, dass jede Religion mit ihren hohen Idealen von ihren Anhängern derart missbraucht werden kann. Natürlich kann ich nicht für die ganze Kirche oder für eine ganze Religion sprechen. Ich kann nur für mich selbst entscheiden, wie ich als Vertreter eines Glaubens sein kann, wie ich ethisch handele, wie ich auf Menschen zugehe. Wenn ich etwas verurteile, dann verurteile ich die Handlungen, aber nie die Menschen als solche. In mir wohnt noch immer die Hoffnung, dass es Wege gibt, Menschen zu erreichen und ihre Denkweise zu verändern. Ich versuche, die Menschen aus ihren Verkrustungen und ihrem Starrsinn herauszuholen. 

Trotzdem: Wenn wir uns das Jahr 2015 mit all den gesellschaftlichen Rückschlägen vor Augen führen, lässt Sie das nicht resignieren? 
Nein, ich resigniere niemals. Schon in meiner Kindheit in der DDR lernte ich, eine Minderheit zu sein, gegen den Strom zu schwimmen – gegen einen übermächtig wirkenden Staat. Ich war als Christ in der damaligen Gesellschaft immer gefordert, weil ich mich nicht verstecken wollte. Auch wenn es jetzt 25 Jahre später so aussieht, als ob die Gesellschaft in eine ähnliche Ohnmacht fallen könnte: Resignieren werde ich nie, ich habe Widerstand von der Pike auf gelernt.  

»Ich versuche die Menschen aus ihren Verkrustungen und ihrem Starrsinn herauszuholen.«

Als Kind einer Pastorenfamilie waren Sie Außenseiter in der DDR. Sie wurden später von der Stasi überwacht, waren Mitinitiator der Montagsdemonstrationen in Magdeburg. Fanden Sie den Mut dazu bei sich selbst oder im christlichen Glauben?
Mit meinem Elternhaus hatte ich schon immer ein Umfeld, das mich stark in meiner Überzeugung prägte. Der Staat hat die Kirche zwar nicht direkt verfolgt, aber mit sehr harten Maßnahmen konfrontiert. Pfarrerskinder bekamen zum Beispiel keinen Oberschulplatz und wurden nicht zum Abitur oder zum Studium zugelassen. Dabei hatte ich immer uneingeschränkten Rückhalt in meinem Elternhaus und der kirchlichen Gemeinschaft. Ich war zehn, als ich anfing, gemeinsam mit 80 anderen Kindern im Magdeburger Domchor zu singen. Dort waren alle oppositionell. Diese Gemeinschaft war immens wichtig. Wenn man in der DDR als überzeugter Christ in die Isolation geriet, ging der Glauben ziemlich schnell kaputt. So waren zumindest meine Erfahrungen. Eine eigene Überzeugung und eine tragfähige Gemeinschaft, das waren die wichtigsten Faktoren für Mut. 

Mit welchen Mitteln haben Sie sich gegen die Schikanen des Staates gewehrt?
In Jugendgruppen sprachen wir damals viel darüber, wie man am besten in bestimmten Situationen reagiert. Als ich bei der Musterung den Wehrdienst verweigerte, fragte mich der Offizier, ob ich denn nicht mit der Waffe mein Heimatland gegen die imperialistischen Kräfte verteidigen würde. Ich sagte ihm, nicht mein Glaube, sondern Gott verbiete das. Das war eine Größe, mit der er nicht umgehen konnte (lacht). Darauf wusste der Offizier nicht mehr, was er antworten sollte. Es war wichtig, offensiv zu reagieren und sich nicht mit seinem Glauben zu verstecken. Andere Erlebnisse zeigten mir, dass die Abneigung gegen die Kirche nicht von den Menschen selbst, sondern vom System kam. Einmal hatte unsere Lehrerin, die mich vor der ganzen Klasse als »Pastorschwein« bezeichnet. hatte, das Klassenbuch zu Hause vergessen. Sie gab mir ihren Haustürschlüssel und ließ es mich holen. Wahrscheinlich, weil sie dachte,  dass sie einem Pfarrerssohn vertrauen kann und der zu Hause nicht klaut (lacht).  

Inter.Vista, Giselher Quast, Foto: Jörn Zahlmann

Inter.Vista, Giselher Quast, Foto: Jörn Zahlmann

Anfeindungen waren also Bestandteil Ihres Alltags in der DDR. Wie sind Sie mit Angst umgegangen?
Als ein eher zartes, musisches Kind hatte ich früher oft Angst vor körperlicher Gewalt. Ich wurde auch ein paar Mal verprügelt. Angst vor den Konsequenzen meiner Einstellung hatte ich nie. Ich habe mir in meinem Herzen einen ganz naiven Kinderglauben bewahrt: Dir kann nichts anderes passieren, als das, was Gott zulässt. Was nicht heißt, dass mir nie etwas Schlimmes zustoßen kann. Aber bei allem, was mir passiert, werde ich immer diesen inneren Halt haben. Ein Urvertrauen, das mich trägt.  

Glaube war für Sie immer auch Protest. Wäre Ihre Hingabe zum Christentum genauso entbrannt, wenn Sie anders sozialisiert worden wären?
Wir leben immer in Kontexten und Bezügen zu Menschen. Ich bin froh, dass ich so aufgewachsen bin. In Lateinamerika wäre ich vielleicht als Priester auf die Barrikaden gegangen und ganz und gar nicht pazifistisch gewesen. Ein Mitläufer wollte ich nämlich nie sein. Ich habe oft das Gefühl, dass Gleichgültigkeit noch schlimmer als Fanatismus ist. Vielleicht wäre ich unter anderen Umständen aber auch ein Christ geworden, der einmal im Jahr zur Kirche geht und den lieben Gott sonst einen guten Mann sein lässt. Wer weiß? 

»Ich versuche, Menschen nicht zu beurteilen, schon gar nicht zu verurteilen. Verstehen ist wichtiger als zu werten.«

Sie waren zwar Initiator der Montagsdemonstrationen in Magdeburg, haben sich aber kritisch über den Verlauf der Wende geäußert. Was hat Sie gestört?
Drei Prozent der Menschen gingen damals auf die Straße, die restlichen 97 Prozentstanden hinter der Gardine. Mit drei Prozent kann man einen morbiden Staat stürzen, aber keinen neuen regieren. Ende 1989 dachte ich, dass jetzt die oppositionellen Gruppierungen und Parteien mit neuen Ideen und politischen Programmen kommen. Aber es kam nichts. Die Programme waren dilettantisch und dürftig. Es gab keine politisch denkende Mittelschicht mehr. 

Wären Sie ein guter Politiker?
Nein. Dazu fehlt mir die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen. Da sind zu viele Zwänge, zu oft muss man sich die Hände schmutzig machen. Als Richard von Weizsäcker nach der Wende zu seinem ersten Besuch in Sachsen-Anhalt nach Magdeburg kam, habe ich ihn durch den Dom geführt. Auf die Frage, wie er seinen christlichen Glauben mit all den Fraktionszwängen, Parteizwängen, Bündniszwängen vereinbaren könne, schwieg er minutenlang. Und dann sagte er schließlich: »Das ist das Problem, mit dem ich mich mein ganzes Leben herumgeschlagen habe, und worauf ich immer noch keine Antwort habe.« Das fand ich zutiefst beeindruckend und ehrlich. Pfarrer zu sein, ist viel einfacher, als Politiker (lacht). 

Sie bedauerten, dass die Wende eine bloße Angliederung an den Westen war. An ein kapitalistisches System, das Sie durchaus kritisch hinterfragen. Glauben Sie, dass bei allem Materialismus und Profitdenken in unserer Gesellschaft bald wieder mehr Raum für Spiritualität und Menschlichkeit existieren wird? 
Ich vermute, dass unsere Wohlstandsentwicklung an natürliche Grenzen stoßen wird. Die Flüchtlingskrise zeigt uns diese Grenzen auf. Wir wollen immer schneller, höher, weiter. Das schafft ein globales Gefälle, welches zu riesigen Konflikten führt. Darüber beginnen wir aber erst nachzudenken, wenn zigtausende Flüchtlinge vor unseren Grenzen stehen. Es gibt Entwicklungen, die uns zwingen werden, zurückzustecken. Ich habe wenig Hoffnung, dass menschliche Einsicht und Vernunft die Ursache für Veränderungen sein wird. Sondern schlichtweg die Konsequenzen, mit denen wir konfrontiert werden.  

Inter.Vista, Giselher Quast, Foto: Jörn Zahlmann

Inter.Vista, Giselher Quast, Foto: Jörn Zahlmann

Bei aller Kapitalismuskritik: Gibt es einen materiellen Luxus, den Sie sich leisten?
Meine Frau sagt immer, dass mein Mercedes meine CD-Sammlung ist (lacht). Ich höre viel klassische Musik. Ich habe im Domchor gesungen und außerdem Klavier- und Orgelspielen gelernt. Und für französische Chansons habe ich ein besonderes Faible. 

Kaufen Sie Ihre CDs gebraucht oder neu?
Unterschiedlich, und dabei bin ich auch völlig unvernünftig. Wenn ich etwas haben will und es gebraucht nicht sofort verfügbar ist, kaufe ich es neu zum teureren Preis (lacht).Es gibt Kantaten von Bach, von denen ich bestimmt 15 verschiedene Aufnahmen habe. Nur um zu hören, ob es nicht vielleicht doch jemanden gibt, der sie noch schöner singt. 

Als Pastor hat man gerade bei der Seelsorge viel mit Leid zu tun, mit tragischen Schicksalen. Wie gehen Sie damit um?
Ich werde in meinem Berufsleben mit viel Leid konfrontiert. Ich habe in Magdeburg Menschen in den schwierigsten Situationen begleitet. Ich habe Beerdigungen von Selbstmördern oder Kindern gehalten. Und so komisch das klingt: Ich mache es gern. Weil ich als Pfarrer kein Trauernder bin, sondern für die Angehörigen da sein muss. Ich versuche dann, der Fels in der Brandung zu sein. Und es ist wichtig, welche Beziehung man selber zu Leid und Tod hat. Vor dem Tod habe ich keine Angst. So konnte ich sogar meine eigenen Eltern beerdigen, als letzten Liebesbeweis sozusagen. 

»Ich habe oft das Gefühl, dass Gleichgültigkeit schlimmer als Fanatismus ist.«

Können Sie bei all der emotionalen Bindung an Ihren Beruf gut abschalten?
Ich kann sehr gut Urlaub machen und alles fallen lassen, ohne auch nur einmal an den Dom zu denken. Ich kenne Kollegen, die nie Urlaub machen, weil sie sich für unentbehrlich halten. So bin ich nicht. Ich fahre gerne weg, aber komme auch genauso gerne wieder. Es gibt also einen inneren Abstand, den ich mir gönne.  

Wann hatten Sie Ihre stärksten Momente als Geistlicher?
(überlegt lange) Die stärksten Momente sind für mich die, wenn etwas schmilzt. Wenn eine Verhärtung plötzlich weich wird und Menschen anfangen, Bitterkeit aufzugeben. Wenn innerlich Mauern einstürzen und alles anders wird. Das kann dann passieren, wenn man Menschen ehrliches Vertrauen entgegenbringt, wenn sie sich aufgefangen fühlen und sich nicht verteidigen müssen. Deshalb habe ich auch bei Menschen, die Schlimmes getan haben, immer versucht, verständnisvoll zu reagieren. Ich versuche, Menschen nicht zu beurteilen, schon gar nicht zu verurteilen. Verstehen ist wichtiger als zu werten.

Interview aus INTER.VISTA 1

Vista.schon?
Giselher Quast wurde 1951 als Sohn eines Pfarrers geboren. Trotz staatlicher Hindernisse trat Quast in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters und studierte an einer kirchlichen Hochschule Theologie. Seit 1979 ist er Prediger am Magdeburger Dom. Als engagierter Christ und Mitinitiator der Montagsdemonstrationen in Magdeburg war er auch im Visier der Stasi. Für sein vielfältiges Engagement wurde er 2002 zum Magdeburger des Jahres gewählt.

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen