Über die Jahre hat sich der gebürtige Sachse in die Elbestadt verliebt. Er ist Mannschaftsarzt des 1. FC Magdeburg und hat seine eigene Praxis. Der Schritt, seine Heimat zu verlassen und in Magdeburg ein Medizinstudium aufzunehmen, fiel nicht leicht. Im Interview erzählt der Tattoo-Liebhaber über sein Faible für die Hardcore- und Punkszene, sein verändertes Verhältnis zum Fußball und welche Arztserien empfehlenswert sind.
Interview und Fotos: Marvin Michitsch
Olli, wie wild war Deine Zeit als Medizinstudent?
Je nach dem. In der Prüfungsphase habe ich mir null Freizeit gegönnt, manchmal musste ich mich sogar zwingen, Pausen einzuhalten. Aber in der normalen Studienzeit war schon richtig Party. Im Prinzzclub Magdeburg war ich Dauergast, ich bin auch mal zu Freunden nach Berlin oder Leipzig gefahren. Das alles geschah aber nur außerhalb der Prüfungszeiten.
Also warst Du ein sehr strebsamer Student?
Ich war der Streber schlechthin. (lacht) Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht gelesen habe. Wir waren eine Vier-Mann-WG, alles Medizinstudenten. Alle mit ähnlichem Lernpensum. Die anderen haben ihren Tag mit Ausschlafen, Essen, Lernen, Pause machen und abends weggehen gestaltet. Bei mir war das anders. Ich habe durchgerackert, vielleicht zwischendurch mal eine Schnitte gegessen und bin gegen zehn ›tot‹ ins Bett gefallen. Ich wollte nie ›auf Lücke‹ lernen. Mein Ziel war immer, den ganzen Sachverhalt zu verstehen. Wenn man mich nachts um drei wecken würde, wollte ich es wiedergeben können.
Welche Eigenschaften hast Du in dieser Zeit entwickelt?
Ehrgeiz. Wenn man seine Arschbacken zusammenkneift und auf das verzichtet, was man gerne macht, darf man das nicht negativ sehen, sondern als kurzes Beiseitepacken. Ich hatte ein Ziel vor Augen und wollte es unbedingt. Diesen Ehrgeiz habe ich bis heute nicht abgelegt.
War es schon als Kind Dein Wunsch, Arzt zu werden?
Niemals. (lacht) Ich habe einen ganz normalen Bildungsweg eingeschlagen. Niemand dachte überhaupt mal daran, dass ich Abitur mache. Mein Ziel war zunächst bis zur achten Klasse kommen und dann raus, Maurer oder irgendwas anderes werden, auf eigenen Füßen stehen. Meine Mutter und mein Stiefvater haben mich dann in der achten Klasse geerdet. Sie meinten, ich könne ja einen Ferienjob ausführen, um das Taschengeld aufzubessern. Sie wollten, dass ich die zehnte Klasse abschließe, so dass ich dann zähneknirschend doch in der Schule blieb. Dummerweise war ich dann in der zehnten Klasse so gut, dass mir gesagt wurde, ich könne sogar Abi machen. So bin ich dann wieder nicht ins Berufsleben eingestiegen. Mittlerweile wollte ich Koch und nicht mehr Maurer werden. Ich komme aus einer BWL-Familie, so dass ich auf ein Gymnasium mit solch einem Schwerpunkt ging. Das war überhaupt nicht meine Leidenschaft, so dass ich mich sehr quälen musste und erst nach vier Jahren mein Abi in der Tasche hatte. Danach war ich planlos.
Geboren und aufgewachsen in Sachsen, wann und warum hat es Dich nach Magdeburg gezogen?
Ausschlaggebend war die zentrale Vergabe von Studienplätzen. (lacht) Ich bekam die Zusage für Magdeburg und war als Sachse erstmal tief traurig, dass ich meine Heimat verlassen musste. Mein Studium in Magdeburg brach ich 2002 wegen Liebeskummer ab und ging zurück. Als ich mich 2004 erneut bewarb, bekam ich wieder die Zusage für Magdeburg. Da dachte ich mir, irgendwer möchte, dass ich hierher komme. Dieses Mal wollte ich es unbedingt durchziehen und meine zweite Chance, Medizin zu studieren, nutzen.
Wie kam Deine Verbindung zum Fußball und zum 1. FC Magdeburg?
Das ist eine recht lustige Geschichte, weil ich vorher so gut wie gar nichts mit Fußball am Hut hatte. Alle Ballsportarten lagen mir fern und ich kannte auch keinen Spieler aus Magdeburg. Im Sommer 2016 war ich zu einer Hochzeit eines guten Freundes eingeladen, wo ich mich mit einem Menschen köstlich unterhielt. Später erfuhr ich von ihm, dass er Marius Sowislo heißt, professionell Fußball spielt und der Kapitän des 1. FC Magdeburg ist. Das war meine erste Berührung mit dem FCM. Danach entwickelte sich bei mir das Interesse an der ärztlichen Betreuung eines Sportlers. Mich reizte, dass man durch ärztliches Handeln eine Leistungssteigerung herbeiführen kann. Durch Marius hat sich ein positives ›Lauffeuer‹ entwickelt, so dass auch andere Sportler von mir hörten. Ich entschloss mich dann, eine sportmedizinische Zusatzausbildung zu machen, dafür brauchte man jedoch einen Verein. Auf höfliche Nachfrage beim FCM hat das zum Glück dann auch geklappt.
Sind Fußballer wirklich so wehleidig, wie sie oftmals dargestellt werden?
(lacht) Ich glaube das ist, wie bei vielen Menschen, typabhängig. Da sehe ich keinen Unterschied zur Normalbevölkerung.
Gibt es andere Sportarten, die Dich vielleicht mehr interessieren?
Ich bin wirklich richtiger Fußballfan geworden. Da hat sich bei mir ein extrem anderes Denken eingebrannt. Erst kürzlich kaufte ich mir eine Konsole mit FIFA 19, um das auch zu Hause leben zu können. Ich interessiere mich aber auch für Basketball, Handball oder Volleyball.
»Ob Maurer, Koch oder Arzt – das ist scheißegal.«
Treibst Du selbst auch Sport?
Zu wenig. Ich bin im Fitnessstudio angemeldet, das sich über meine monatlichen Beiträge freut. (lacht) Man sieht mich dort aber eher in den Wintermonaten. Wenn’s hochkommt, gehe ich noch zweimal die Woche joggen. Das ist aber immer von meiner Laune abhängig.
Geht ein Arzt eigentlich auch zum Arzt oder diagnostizierst Du Dich selbst?
Ich diagnostiziere recht viel alleine. Wenn es aber gar nicht geht, ziehe auch ich ärztliche Hilfe heran. Gerade im orthopädischen Bereich. Bei muskulären Probleme kenne ich gute Freunde, die ich um Rat frage. Das meiste mache ich aber tatsächlich selbst. Krank bin ich sowieso sehr selten.
Aufgrund des Ärztemangels sind Wartezimmer oft überfüllt. Wie ist es in Deiner Praxis?
Das Wartezimmer ist fast jeden Tag brechend voll, manchmal nehmen die Patienten sogar noch im Treppenhaus Platz. So sieht es auch bei anderen Ärzten in Magdeburg aus. Es gibt insbesondere zu wenig Fachärzte. Die Gesundheitspolitik will das irgendwie reglementieren. Das Geld, das für die Bevölkerung da ist, muss schlau verteilt werden. Es besteht die Sorge, dass wenn zu viele Ärzte diesen Topf anzapfen, am Ende zu wenig für andere Stellen übrig bleibt. Im Alltag will mir manchmal gar nicht einleuchten, warum sich nicht noch ein weiterer Kollege hier in Magdeburg niederlassen darf. Das sind festgelegte Dinge, denen wir uns unterordnen müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir versuchen, die Politik mitzugestalten.
Wie oft greifst Du an stressigen Tagen zu Koffeingetränken?
Wahrscheinlich zu oft. (lacht) Das Grundnahrungsmittel in der Praxis ist eigentlich Kaffee. Liebe Schwestern sorgen bei mir dafür, dass dieser niemals ausgeht. Zwischendurch gibt’s dann sogar manchmal ganz ungesunde Sachen, wie Red Bull oder Cola. Aber Koffein ist schon der Treibstoff meines Motors.
Wer war bislang Dein prominentester Patient?
Einen, den wirklich alle über Magdeburg hinaus kennen, hatte ich noch nicht. Die Sportler sind aber schon recht prominent. Da staunen auch immer die Patienten im Wartezimmer.
Du hast einige sichtbare Tattoos auf den Armen, woher stammt Deine Leidenschaft für Farbe auf der Haut?
Ich komme aus der Hardcore- und Punkszene, dort sind ja nahezu alle tätowiert. Das gehört einfach zu dieser Subkultur. Irgendwann hat mich diese Leidenschaft gepackt. Ich mag es einfach, Tattoos zu tragen. Bei mir haben alle eine Bedeutung und sind wohl überlegt. Ich trage quasi meine Geschichte auf der Haut.
»Koffein ist der Treibstoff meines Motors.«
Hattest Du dadurch jemals Probleme im Alltag?
Eigentlich nicht. Am Anfang waren meine Tattoos noch verdeckbar, so dass ich auch was Langes drüberziehen konnte, wenn das verlangt wurde. Aber Probleme gab es nie. Denn freundlicherweise ist die Situation heutzutage so, dass Tattoos in der Gesellschaft gut angenommen werden, dass es nichts Besonderes mehr ist. Das Klischee ist weg, dass sowas nur Knastis oder Asoziale tragen. Ich habe auch viele tätowierte Patienten, jung und alt. Eine nette Patientin um die 80, die das cool findet, fragt mich regelmäßig nach neuen Tattoos. (lacht)
Du bist bekennender Vegetarier, was hat Dich zu dieser Lebenseinstellung bewogen?
Auch das fing in der Hardcore und Punkszene an. Dort macht man sich ja auch viele Gedanken über eine bessere Welt. Themen wie Politik, Umweltschutz, Ethik und sowas. Ich dachte darüber nach, ob es unbedingt notwendig ist, Tiere umzubringen, nur damit ich satt werde. Es existieren eine Menge Alternativen. Ja, es gibt immer Vorwürfe, das sei doch nicht gesund und man müsse doch Mangelerscheinungen haben. Das ist einfach Quatsch. Wie bei jeder anderen Form der Ernährung auch Wenn man Vollköstler ist, kann man das auch falsch betreiben und wird dick, rund und krank. Bei mir war es der ethische Aspekt: Ich möchte nicht, dass andere Lebewesen für mich getötet werden. Meine innerste Überzeugung ist, vegan zu leben, weil ich dann auch solche Sachen wie Legebatterien oder Milchviehbetriebe verhindern könnte, wenn alle mitmachen. Aktuell bin ich davon aber abgekommen, weil ich gerade so Bock auf Käse und Eier habe.
Wie bindest Du diese Ernährungseinstellung in die Erziehung Deiner Kinder ein?
Ich überlasse ihnen die Entscheidung, bei mir war’s ja auch so. Meine Kinder sind jetzt fünf und zehn Jahre alt und bekommen von mir natürlich die Information, dass Fleisch nicht auf Bäumen wächst. Oder, dass so ein Würstchen, das aus der Packung rausrutscht, auch mal ein Tier war. Zum anderen sind meine Kinder auch sehr tierlieb und gehen gerne in den Zoo oder gucken Tierfilme. Ich erkläre ihnen auch, dass einige Sachen, die sie essen, auch mal etwas gefühlt haben. Ich würde ihnen aber niemals ein Würstchen aus der Hand schlagen. Mit sachlichen und kindgerechten Informationen sollen sie eine eigene Entscheidung treffen.
Was ist Dein Ruhepol nach einem umfangreichen Arbeitstag?
Musik ist etwas, das mich runterbringt. Ganz oldschool habe ich eine Schallplattensammlung, die ich gerne mal durchgehe. Platten auflegen und in der Vergangenheit schwelgen. Wenn ich denn Sport treibe, bringt mich das auch runter. Aber auch Unternehmungen mit Freunden und versuchen, das Leben so bunt wie möglich zu gestalten. Das erdet mich.
»Ich möchte nicht, dass andere Lebewesen für mich getötet werden.«
Freizeit in Magdeburg. Wo lässt es sich am besten relaxen?
Im Sommer definitiv in der Datsche. Das ist sehr chillig und erinnert mich an meine letzte Heimat Leipzig-Connewitz, also ein bisschen alternativ und alle sind locker drauf. Dort kann man dem Alltag entrinnen, obwohl man mitten in der City ist. Ansonsten sind es die vielen Grünflächen in Magdeburg. Auch wenn es nur mal an der Elbspitze im Rotehornpark ist und man stumpf aufs Wasser guckt, das macht mir schon viel Freude.
Bist Du ein Serien-Junkie?
Ja, auf alle Fälle. Klassischerweise gucke ich oft Scrubs oder Dr. House, logisch.
Also bist Du ein Fan von Ärzteserien?
Ja schon, aber Schwarzwaldklinik oder Emergency Room würde ich mir nicht angucken. Seit es Die Simpsons gibt, bin ich auch ein großer Fan davon. Manchmal gucke ich auch so einen Schwachsinn wie Family Guy. Neuerdings habe ich auch 4 Blocks für mich entdeckt, das finde ich genial. Da ich auch gerne koche, fiebere ich oft auch bei The Taste mit.
Du warst Roadie der Punkrock-Band Rykers. Was war Deine Aufgabe?
Rykers ist eine Band aus Kassel. Mit dieser Band bin ich getourt und war zum Beispiel für Bühnenmaterialien und Merchandise-Artikel verantwortlich oder dass im Bandraum genug Bier da ist. Auch Absprachen mit Veranstaltern musste ich treffen.
Und wie war es?
Intensiv. 1996 war die geilste Zeit meines Lebens. Ein freies Leben. Du startest in Frankreich und wachst am nächsten Morgen in Belgien auf. Man lernt Leute kennen und es entstehen Freundschaften. Eine riesige, europäische Hardcore-Community hat sich da für mich erschlossen. Die Hardcore- und Punkkids gibt’s es ja schon immer und sie halten echt gut zusammen. Mit einem Mädchen aus Frankreich schreibe ich sogar heute noch. Wenn man irgendwann mal erwachsen werden will, so mit Geldverdienen und Familie, dann geht das natürlich nicht mehr. Da muss man sich entscheiden. Tatsächlich hatte ich auch eine eigene Band, aber das war nur ein Hobby. Rykers – das war schon richtig Business, die sind auch heute noch aktiv.
Ein typisches Rockband-Klischee: Habt ihr mal ein Hotelzimmer verwüstet?
Das nicht. Aber wir sind mal aus einem Club in Köln rausgeflogen. Da floss dann doch ein bisschen viel Alkohol und wir wurden immer lauter und wilder. Dann ging mal hier ein Glas und da mal ein Tisch zu Bruch. Danach standen wir draußen in der Kälte und sind reumütig zum Tourbus getappt.
Wie wichtig ist Musik für Dich heutzutage und was hörst Du?
Schon heute Abend bin ich wieder in Leipzig Connewitz und gucke mir ein paar Bands an, die Hauptband ist Terror. Das sind die Bands, die schon früher mein Leben gestaltet haben und heute noch aktiv sind. Auch die ganzen Leute von damals treffe ich dort. Viele, die jetzt vorn an der Bühne stehen, könnten auch schon meine Kinder sein. Das ist der Hammer. Wir feiern dort zusammen und das ist nicht nur Dastehen und Kopfnicken, sondern auch Stage Diving mit allem Drum und Dran. Das ist immer ein Gefühl von Gemeinschaftlichkeit. Bei einem Konzert habe ich vom ersten bis zum letzten Lied das pure Lächeln im Gesicht. Das gibt mir ein Glücksgefühl. In dem Moment ist es auch scheißegal, wer du bist: Ob Maurer, Koch oder Arzt – das ist scheißegal. Wir sind eine Familie und feiern gemeinsam.
»Ich war der Streber schlechthin.«
Wenn Du Deine Partnerin in Magdeburg zum Essen ausführst, wohin gehst du?
Definitiv ins Côba. Das ist ein Vietnamese am Hasselbachplatz. Es ist dort sehr lecker. Zudem bietet die asiatische Küche viel vegetarische Kost. Atmosphäre und Personal sind super. Man fühlt sich kurzzeitig wie in einem kleinen Asienurlaub. Das kann ich nur empfehlen.
In einem Satz, wie hat sich Deine Haltung zur Stadt Magdeburg gewandelt?
Erst gehasst, dann akzeptiert, jetzt geliebt.
Dezember 2018
Interview aus INTER.VISTA 7
Vista.Schon?
Oliver Poranzke ist 1977 in Grimma geboren. Als Patchwork-Kind wuchs er mit seiner alleinerziehenden Mutter und einem jüngeren Bruder in Muldental bei Leipzig auf. Bruder Patrick hat sich in Bayern nieder gelassen. Seine Mutter wohnt im Erzgebirge, seine jüngere Schwester Anne in den Niederlanden. Von 2004 bis 2010 studierte Oliver Medizin an der Otto-von- Guericke-Universität Magdeburg, arbeitete anschließend bei den Pfeifferschen Stiftungen. Seit 2016 hat er eine eigene Praxis im Breiten Weg. Seit Sommer 2018 ist er Mannschaftsarzt des 1. FC Magdeburg.
Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen
Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.