Mitglied in drei Parteien, Hausbesetzungen in Göttingen und zahlreiche Engagements in Vereinen und Organisationen. Jürgen Canehl kann auf ein bewegtes politisches Leben zurückschauen. Im Fokus dabei immer: die Stadtentwicklung. Wir wollen wissen, wieso es ihn nach Magdeburg verschlagen hat und ob er demnächst mal kürzertreten will.
Interview und Fotos: Marco Starkloff
Du bist 65, da beginnt für die meisten die Rente. Bei Dir klingt das nicht danach. Hast Du nicht langsam Lust auf Freizeit?
Viele, die die Rente herbeisehnen, sind oft in lohnabhängiger Arbeit. Man hat Vorgesetzte und ist nicht mehr ganz so fit wie die jungen Leute. Daher ist man froh, wenn man aufhören kann. Bei mir ist es ein bisschen anders. Da ich seit 2000 selbstständig bin, kann ich mir die Arbeit selbst einteilen. Natürlich habe ich meinen Rentenantrag abgegeben und da gibt es auch ein bisschen was. Ich werde aber trotzdem noch weiter arbeiten. Wir wollen aber nächstes Jahr deutlich mehr Urlaub machen.
Wie sieht eine normale Woche bei Dir aus?
Unterschiedlich. Diese Woche sind zum Beispiel viele Sitzungen. Heute Nachmittag ist Betriebsausschuss des Stadtgartenbetriebes, am Abend dann noch das Kuratorium zum Schiffshebewerk und morgen die Ausschusssitzung der WOBAU. Im Dezember findet immer unser Weihnachtsspektakel vom Bürgerverein statt, wofür wir diese Woche auch eine vorbereitende Vorstandssitzung haben. Ansonsten habe ich auch in meinem Büro viel zu tun.
Wo bist Du in Magdeburg aktiv?
Beruflich bin ich Geschäftsführer eines kleinen Planungsbüros. Eigentlich wollten wir uns weniger aufbürden, aber es ist anders gekommen. Ehrenamtlich mache ich eine ganze Menge. Ich bin noch zweiter Vorsitzender vom Bürgerverein Stadtfeld, den ich 2002 mitgründete. Seit ein paar Jahren bin ich auch im ADFC wieder aktiv. Und seit 2004 bin ich im Stadtrat, zunächst für die SPD, später dann als bildungs- und verkehrspolitischer Sprecher für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Ich habe auch eine Familie mit zwei Kindern, die jetzt schon selber eine Familie gegründet haben. Ein Enkelkind ist schon da, das zweite kommt im Dezember.
»Magdeburg sollte lebenswerter werden.«
Du hast eine sehr bewegte politische Vergangenheit. Wie kam es zu Deinem Engagement?
1971 fing ich an zu studieren, die Studentenbewegung war noch voll im Gange. Zu jener Zeit bin ich politisch aktiv geworden. Ich ließ mich zum Beispiel für den Studentenrat und Fachschaftsrat aufstellen und habe so die Interessen der Studenten vertreten.
Wie bist Du zur Kommunalpolitik gekommen?
In Göttingen studierte ich Wirtschaftsund Sozialwissenschaften und beschäftigte mich mit Stadtsanierung sowie mit Partizipation in der Stadtplanung. Göttingen hat ein Sanierungsgebiet, praktisch die gesamte Innenstadt. Dort wollte man ein ganzes Quartier abreißen. Als Gegenbewegung besetzten wir einfach die Häuser. Fachwerkhäuser sollten abgerissen und ein Kaufhaus gebaut werden. Damals gab’s den Spruch: »Die Stadt saniert, Oetker kassiert«. Der war der Bauträger des Projekts.
Hausbesetzung, wie lief das ab? War das nicht schwierig?
Nein, die Häuser standen leer und waren vorbereitet für den Abbruch. Wir sind reingegangen und hängten Transparente dran. Wir hatten immer eine Art Wache, die aufpasst. Natürlich nutzten wir das, um auf die Stadtplanung oder -sanierung aufmerksam zu machen, die wir so nicht wollten.
Wann bist Du dann zum ersten Mal mit den Parteien in Kontakt gekommen?
Das war in einer anderen Situation. Es ging um Verkehr. Über den öffentlichen Nahverkehr in mittleren Großstädten hatte ich ja meine Diplomarbeit geschrieben. Man plante also ein großes Parkhaus für Karstadt, wofür ein weiteres Viertel abgerissen werden sollte. Wir gründeten eine Bürgerinitiative dagegen und die einzige Partei, die uns voll unterstützte, war die DKP (Deutsche Kommunistische Partei, Anm. d. Red.). Ich trat letztendlich dort ein und kandidierte auch für den Rat. Das war naheliegend, mich kommunalpolitisch zu engagieren. Es machte Spaß und war ja quasi angewandtes Studium. (lacht)
In Göttingen bist Du aber nicht geblieben. Wohin ging’s dann?
Zu einem städtebaulichen Aufbaustudium an der TU in München. Im April 1979 fing ich in Frankfurt am Main bei einem Wohnungsbauunternehmen als Sanierungsbeauftragter an. Meistens ging es um Fachwerkstätten. Schließlich landete ich in einem Planungsbüro in Darmstadt und mein Chef wollte nach der Wende im Osten mitmischen. Mir wurde angeboten, die Geschäftsstelle in Erfurt aufzubauen, allerdings hatte ich keine Lust darauf, Frankfurt am Main zu verlassen und montags bis freitags in Erfurt zu wohnen. Im Becken, wo es 1991 noch nach Braunkohle stank. Ich hörte dann von einem Freund, dass in Potsdam ein Geschäftsführer gesucht wird, um einen Sanierungsträger zu gründen. Dort bewarb ich mich. Den Job in Potsdam habe ich sechs Jahre gemacht. Anschließend ging ich nach Magdeburg und war Vorstandsvorsitzender einer Wohnungsbaugenossenschaft.
Was wurde aus Deinem politischen Engagement?
Schon in Frankfurt am Main war ich aus der DKP ausgetreten. (lacht) Ich konnte das alles auch gar nicht mehr mit ansehen. In Potsdam schloss ich mich der SPD an.
Wie ging es mit der politischen Laufbahn in Magdeburg weiter?
1997 war ich im SPD-Vorstand des Ortsvereins Stadtfeld, wo ich 2000 auch Vorsitzender wurde, wenn ich mich nicht irre.
Heute bist Du nicht mehr in der SPD. Wie kam es dazu?
2004 kam die Idee mit dem Tunnel auf, der uns jetzt die Stadtfinanzen kaputt macht. Unser Ortsverein Stadtfeld war mehrheitlich dagegen. Wir stritten uns auch permanent mit dem Oberbürgermeister. Im gleichen Jahr war ich für die SPD als Stadtrat gewählt worden, doch ich konnte den Beschluss nicht mittragen und stimmte bei manchen verkehrspolitischen Themen mit der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der ich damals nicht angehörte.
Bist Du wegen des Tunnels ausgetreten?
Nein, aber das war natürlich stressig. Den Vorsitz des Ortsvereins gab ich daraufhin ab. Als es 2009 darum ging, wer für den Stadtrat kandidiert, formierte sich eine Gegenbewegung in der SPD, der es darum ging, mich nicht auf einem vorderen Listenplatz zu haben. Im Rahmen eines Parteitages verließ ich dann die Partei und sagte, dass sie mich alle ›am Arsch lecken können‹.
»Das ehrenamtliche Engagement wird nicht immer wertgeschätzt.«
War das eine schwere Entscheidung?
Nein, es war einfach Zeit und ich stehe dazu, dass es richtig und wichtig war.
Trotzdem bist Du wieder in den Stadtrat eingezogen. Wie ging das?
Ich bemühte mich für BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN aufgestellt zu werden. Als Nichtmitglied ist mir das recht schnell gelungen. Bei der entscheidenden Wahl erzielte ich schließlich das beste Ergebnis aller Kandidaten. Von Platz 5 bin ich dann ganz hoch gerückt. Das war eine schöne Bestätigung für mein Engagement in Stadtfeld. Ende des Jahres bin ich dann auch in die Partei eingetreten.
Du hast den Bürgerverein für Stadtfeld mitgegründet. Warum?
Alle großen Stadtteile haben eigene Bürgervereine. Wenn man etwas erreichen will, ist es wichtig, öffentlichkeitswirksam Sachen herauszustellen. Man kann ja über unsere Heimatzeitung Die Volksstimme mit ihrem Monopol denken, was man will. Aber Tatsache ist, wenn man als Bürgerverein auf den Stadtteilseiten vertreten ist, wird das von vielen gelesen. Anliegen lassen sich so leichter durchsetzen. Das haben wir bereits in Frankfurt so gemacht. Wir organisierten Straßenfeste, um Forderungen durchzusetzen. Dort gründete ich übrigens die Bürgerinitiative Friedberger Landstraße. Uns ging es zum Beispiel darum, etwas für den Fahrrad- und Straßenbahnverkehr zu machen.
»Ich kann keine Vision sehen, weil ich langsam das Gefühl habe, dass manches nur mein >Problem< ist.«
Du engagierst Dich im ADFC für mehr Radverkehr. Warum?
Ja, das liegt doch auf der Hand. Wenn man in Straßen die Wohnfunktion erhalten will, muss man so handeln. Es macht die Stadt lebens- und liebenswerter. Es ist einfach an der Zeit, dass wir auch aus Gründen der Klimakatastrophe den motorisierten Individualverkehr zurückdrängen.
Eines Deiner Herzensprojekte ist der FahrRad-Aktionstag. Wie kam es dazu?
Nachdem der OB den Auftrag des Stadtrates nicht umsetzten wollte, haben wir das als ADFC kurzerhand selbst organisiert. Es sollte ja nicht nur eine Ansammlung von Infoständen sein, sondern eine Fahrraddemonstration sollte dem vorausgehen, bei der wir über den Magdeburger Ring fahren. Das ist mittlerweile schon Tradition. Irgendwann begann ich auch, mich um die Organisation zu kümmern. Doch es ist sicherlich an der Zeit, dieses Projekt abzugeben, weil ich auch nicht mehr der Jüngste bin. Und bald habe ich zwei Enkelkinder, dann will ich mich damit beschäftigen.
Fällt es Dir schwer, so etwas ab- oder aufzugeben?
Ja, weil ich immer möchte, dass es weiterhin ›richtig‹ umgesetzt wird. Also manchmal bin ich bei so etwas wohl etwas einfühlsam. Aber was sein muss, muss sein. (lacht)
Für ehrenamtliche Arbeit opfert man viel Freizeit. Wird es gedankt?
Selten. Ich kenne das aus der Parteiarbeit bei der SPD und den GRÜNEN. Wenn du Vorschläge machst, hast du es gleich ›am Hacken‹. Du sollst das dann auch umsetzen. Gleichzeitig wird einem vorgeworfen, man würde sich nur in den Vordergrund spielen wollen. Manchmal mag da etwas dran sein, ich bin ein wenig geltungsbedürftig. Aber das ehrenamtliche Engagement wird nicht immer wertgeschätzt.
Wie lässt sich Familie und Deine ehrenamtliche Arbeit vereinbaren?
Meine Frau hat zur Zeit auch viel zu tun. Die Kinder sind jetzt aus dem Haus, meine Tochter studiert und mein Sohn hat eine kleine Familie gegründet. Manchmal hätte ich mich sicherlich mehr um meine Kinder kümmern können.
Bereust Du das?
Was würde das nützen? Ich will meinem Sohn jetzt stärker helfen, weil die Enkelkinder da sind. Vielleicht hole ich das an der Stelle ein bisschen nach.
Wenn Du zurückblickst, wie siehst Du Deine Entwicklung?
Also die meisten Sachen, die ich angepackt habe, klappten. Ich kann nicht sagen, dass ich irgendwas wirklich bereue.
Die »Ottostadt« liegt Dir sehr am Herzen. Was ist Deine Vision für die Stadt?
Wir brauchen Aufenthaltsqualität, gerade in der Innenstadt. Auch bei Kindergärten und Schulen müssen wir handeln. Ich kann keine Vision sehen, weil ich langsam das Gefühl habe, dass manches nur mein ›Problem‹ ist. Ich denke auch, dass viele Dinge eher in die falsche Richtung gehen. Eigentlich traurig. Magdeburg sollte also lebenswerter werden.
November 2017
Interview aus INTER.VISTA 5
Vista.Schon?
Jürgen Canehl, Jahrgang 1952, studierte in Tübingen, Göttingen und München und ist DiplomSozialwirt und Stadtplaner. 1997 kam er nach Magdeburg und ist heute Geschäftsführer des Planungsbüros Lindner + Canehl GmbH sowie geschäftsführender Gesellschafter der Lofthaus Buckau OHG. Sein politischer Werdegang führte von der DKP über die SPD zu BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Seit über 13 Jahren ist er Mitglied des Magdeburger Stadtrats und engagiert sich ehrenamtlich in vielen Vereinen, unter anderem beim ADFC. Der passionierte Radfahrer hat zwei Kinder und ist mittlerweile schon zweifacher Großvater.
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