Kriminalrat a. D. Lothar Schirmer ist der bekannteste Kriminalist Sachsen-Anhalts. Nach 20 Jahren im operativen Kriminaldienst in der DDR, baute er in der Nachwendezeit das Präventionsdezernat in Magdeburg mit auf. Er ist auch Journalist und veröffentlicht Artikel und Kolumnen in Zeitungen. Inter.Vista erzählt er von den Anfängen der Präventionsarbeit in den neuen Bundesländern und der größten Schießerei in Magdeburg.
Interview und Fotos: Julian Gefeke
Im Vergleich zu anderen Großstädten: Wie gefährlich ist Magdeburg?
Magdeburg bewegt sich im Bundesvergleich im Mittelfeld. Von der gesamten Kriminalitätsbelastung her, sind wir hier nicht besonders schlimm dran. Es gibt aber einzelne Delikte, die in Magdeburg häufiger vorkommen als in anderen Städten. Zu diesen Delikten gehört der Fahrraddiebstahl. Viele Jahre waren wir an der Spitze der Bundesrepublik, jetzt befinden wir uns zumindest nur noch im Spitzenfeld.
»Außerdem galt die Auffassung, dass Kriminalität dem Sozialismus ‘wesensfremd’ sei. Die Gauner haben sich daran natürlich nicht gehalten.«
Kriminalprävention ist ein Kernaspekt Ihrer späteren beruflichen Laufbahn. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Zu DDR-Zeiten gab es keine kriminalpolizeilichen Beratungsstellen. Es war tatsächlich so, dass die Kriminalitätsbelastung bedeutend geringer war als jetzt. Also benötigte man wahrscheinlich keine Beratungsstellen. Außerdem galt die Auffassung, dass Kriminalität dem Sozialismus „wesensfremd” sei. So haben wir das zumindest gelernt. Die Gauner haben sich daran natürlich nicht gehalten. Und so haben wir damals aus freien Stücken Dia-Ton-Vorträge gehalten – Präsentationen mit Tonband und Diaprojektor, in denen wir die Arbeit der Kriminalpolizei vorstellten und gleichzeitig Tipps gaben. Zeitungsartikel habe ich auch geschrieben, obwohl wir ja nicht viel über Kriminalität schreiben konnten, weil es ja „gesetzmäßig“ keine gab. Nach dem Mauerfall kamen wir mit Kollegen aus den alten Bundesländern zusammen, die uns sagten, dass sie Kripoberatungsstellen haben. Unser damaliger Leiter der Kriminalpolizei fragte mich, ob ich nicht auch Interesse hätte, einen Kriminalpräventionsbereich aufzubauen. Ich reiste dann 1990 und 1991 herum, schaute mir solche Beratungsstellen an und baute gemeinsam mit Kollegen hier aus Magdeburg eine Beratungsstelle auf, die Maßstäbe setzte. Wir waren ein Dezernat für Kriminal- und Verkehrsprävention und gleichzeitig auch noch Öffentlichkeitsarbeit.
Maßstäbe inwieweit?
So etwas gab es in den neuen Bundesländern noch nicht. Wir waren die Beratungsstelle, die am besten funktionierte. Selbst Kollegen aus den alten Bundesländern waren erstaunt. Durch eine offensive, kriminalpräventive Arbeit schafften wir es, feste Sendeplätze im MDR-Radio, Radio Brocken und Radio SAW zu bekommen. Aber auch im Fernsehen: Im MDR-Mittagsmagazin, in der Rubrik »Tipps gegen Tricks« bei Hier ab Vier mit meiner Kollegin Ilona Wessner. Dann waren wir in sämtlichen Zeitungen vertreten. Das hat sich eingeprägt. Eine offene, medienfreundliche Polizeiarbeit rentiert sich. Bedauerlicherweise gab es dann mehrere Polizei-Strukturreformen. Die letzte führte dazu, dass 2012 das Dezernat, zwei Jahre nach meiner Pensionierung, praktisch aufgelöst wurde. Es gibt nur noch eine Verantwortliche im Dezernat Prävention, Kriminalrätin Ilona Wessner. Sie ist hauptsächlich mit der Administration beschäftigt, der andere Teil des Dezernats wurde auf die Regionalbereichsbeamten, früher Kontaktbeamte und Ansprechpartner für die Bürger, ausgelagert. Die haben zwölf Hauptbereiche, die sie bedienen müssen: Streifentätigkeit, Anzeigenaufnahme, Personenauffindung, Ermittlungstätigkeiten und vieles mehr. Nur einer dieser Punkte ist die Kriminalprävention. Sehr bedauerlich.
Wo gehe ich dann hin, wenn ich mich informieren möchte?
Wer Auskunft haben möchte, meldet sich bei der Polizei und landet in der Regel bei dem zuständigen Regionalbereichsbeamten. Aber der Weg dorthin geht über so viele Ecken, dass manche Bürger schon in der Mitte aufgeben. Keine ideale Lösung.
Gibt es denn noch andere Organisationen oder Vereine, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen?
Ja, es gibt beispielsweise die Magdeburger Senioren-Sicherheitsberater. Das sind zehn ehemalige Polizeibeamte und an der Sicherheit interessierte Bürger, die sich seit 2001 treffen, um ältere Bürger zu beraten. Sie halten Vorträge vor der Volkssolidarität, der Arbeiterwohlfahrt, den Samaritern und weiteren Vereinen und Organisationen. Ich trat ihnen bei, nachdem ich in den Ruhestand ging und das Dezernat aufgelöst wurde. Da damit der Kontakt zur Polizei abbrach, wären wir dort verhungert und auf unserem alten Kenntnisstand geblieben. Da ich aber nach meiner Pensionierung als freier Journalist beim MDR anfing, gewann ich die Möglichkeit, mir die Informationen zu holen, die wir brauchten, nämlich Polizeimeldungen. Diese Informationen bekommen die Senioren-Sicherheitsberater und das führt dazu, dass sie über die Kriminalität im Land Sachsen-Anhalt streckenweise besser informiert sind, als Regionalbereichsbeamte aus Magdeburg. Diese wissen häufig nur, was in ihrem Bereich und in der Stadt vor sich geht, aber nicht im gesamten Land. Außerdem bringen pensionierte Beamte ihren letzten Kenntnisstand bei uns ein. Wir bleiben so auf dem Laufenden.
»1982 gab es die größte Schießerei, die wir jemals in Magdeburg hatten.«
Sie schauen auf 40 Jahre aktiven Polizeidienst zurück. Aus polizeilicher Perspektive betrachtet: Welche Unterschiede können Sie zwischen der Vor- und Nachwendezeit festmachen?
Zuerst mal, Kriminalisten im Osten und im Westen kochen auch nur mit Wasser. Die grundlegenden Prinzipien der kriminalpolizeilichen Arbeit waren auf beiden Seiten gleich, ähnlich die technische Ausrüstung. Nach der Wende waren wir wie ein Schwamm. Wir haben alles an Erkenntnissen aufgesogen. Die Nachwendezeit war eine sehr wechselhafte und unbeständige Zeit. Kollegen sind woanders untergekommen oder wurden entlassen. Man wusste nicht, wie die Zukunft aussieht, ob man nicht selbst der Nächste ist. Gleichzeitig war es aber auch aufregend. Es war ein Vorwärtsdrängen. Wir konnten Dinge machen, die vorher nicht möglich waren. Ich habe es als sehr positive Zeit empfunden.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren operativen Dienst in der DDR?
Vor dem Mauerfall war ich Oberleutnant der Kriminalpolizei im Kriminaldauerdienstdienst. Es gab ja keine Beamten in der DDR. Der Kriminaldauerdienst war sozusagen die Feuerwehr der Kriminalpolizei. Ob Einbruch, Überfall, Vergewaltigung, Tötungsdelikt oder Verkehrsunfall mit Toten, wir waren als Erste draußen. Ich habe alles hautnah mitbekommen. Wir hatten Verfolgungsjagden über den Hasselbachplatz in einem Polizeibus, der gekippt auf zwei Rädern fuhr und sind mit gezogener Pistole in Sudenburg über die Dächer flüchtigen Tätern hinterhergejagt. Wir haben da schon tolle Dinger miterlebt.
»Die Nachwendezeit war eine sehr wechselhafte und unbeständige Zeit.«
Gibt es einen speziellen Fall, der Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
1982 gab es die größte Schießerei, die wir jemals in Magdeburg hatten. Kleiner Exkurs in Sachen Medienberichterstattung der DDR: Es gab sechs Tote und alles, was in einem kleinen Artikel in der Zeitung am nächsten Tag stand, war, dass es im Jugendklub in Friedensweiler zu einem Zwischenfall gekommen sei, bei dem die Bekleidung von 32 Personen in der Garderobe durch eine Handgranate beschädigt wurde. In Wirklichkeit hatte ein junger Soldat der sowjetischen Streitkräfte einen Zusammenbruch erlitten, weil seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hatte. Er war in der Waffenkammer beschäftigt und munitionierte sich mit Handgranaten und einer Kalschnikow auf. Er flüchtete von der Hindenburg-Kaserne die Berliner Chaussee stadtauswärts, bis hinter das Stadion Neue Welt zum Friedensweiler. Unterwegs lieferte er sich schon mehrere Schusswechsel mit anderen Soldaten. Dabei wurden sechs getötet und mehrere schwer verletzt. Selbst getroffen, versuchte er sich dann in einen Jugendklub zu retten, in dem eine Veranstaltung mit über 50 Personen stattfand. Wir haben ihn dann dort ausfindig gemacht. Er saß in der Garderobe und verarztete sich selbst, als er von uns überrascht wurde. Als er versuchte, eine Handgranate zu werfen, wurde er von mehreren Kugeln getroffen. Er ließ sie fallen und sie zerfetzte ihm die Beine. Nach einem Vierteljahr Genesung wurde er dann hingerichtet. Das ist schon eine Story, die es nicht noch einmal gibt. Wenn man so etwas als Polizeibeamter erlebt, ist es ein Glücksfall, da heil herauszukommen.
»Wir hatten Verfolgungsjagden über den Hasselbachplatz und sind mit gezogener Pistole in Sudenburg über die Dächer flüchtigen Tätern hinterhergejagt.«
1989 brachte tiefgreifende Veränderungen mit sich. Nach der Wende nahm die Fremdenfeindlichkeit im Osten Deutschlands deutlich zu. Inwieweit war diese schon davor zu spüren?
Ausländerfeindlichkeit war nicht so stark präsent, weil Ausländer in der Öffentlichkeit keine große Rolle spielten. Es gab nur wenige Migranten und Gastarbeiter, und diese kamen meistens aus sozialistischen Ländern wie Kuba, Angola oder Nordvietnam. Es war sehr übersichtlich. In der Wendezeit hat sich das dann geändert. Mehr Menschen kamen hierher. Mit dem Öffnen der Grenze entwickelten sich oft auch familiäre Problemsituationen. Angst vor sozialem Abstieg kam hinzu, viele gerieten in die Arbeitslosigkeit. Das, gepaart mit der grundlegenden Angst vor dem Unbekannten und Fremden, schuf Frust, und so etwas sucht sich immer ein Ventil. Betroffen sind dann leider immer die Schwachen und Minderheiten. Der Höhepunkt waren hier in Magdeburg die Himmelfahrtskrawalle 1994. Die Polizei war nicht auf die Ereignisse vorbereitet. Himmelfahrt bedeutete für die Kollegen damals vor allem Verkehrsüberwachung. Vor Karstadt gab es eine verbale Auseinandersetzung. Auf der einen Seite eine Gruppe größtenteils rechtsorientierter Hooligans und auf der anderen Seite die Migranten. Letztere konnten durch einen von Türken geführten Laden fliehen. Ihre Verfolger demolierten die Frontscheibe des Ladens und die Besitzer fühlten sich bedroht. Die sind dann mit Messern bewaffnet raus und haben sich und ihren Laden verteidigt. Die Polizeikollegen, die dort eintrafen, sahen als Erstes bewaffnete Ausländer, die Deutsche bedrohen. Letzten Endes wurden dann Beteiligte beider Seiten verhaftet. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis man im Nachhinein Gut von Böse trennen konnte. Ein Fernsehteam nahm dann auch noch Szenen auf, in denen Hooligans den Hitlergruß zeigten. Diese Bilder gingen dann um die Welt: Magdeburg, die ausländerfeindliche Stadt. Die Defizite im Handeln der Polizei wurden danach ausgewertet, und so etwas ist in den Jahren danach nie wieder passiert. Um ein Zeichen zu setzen, wurde das Fest der Begegnung ins Leben gerufen. Da bin ich seit dem ersten Tag mit dabei. Polizei und Migranten treten gemeinsam mit Magdeburgern in Kontakt. Das erste Mal wurde das Fest am Himmelfahrtstag 1996 gefeiert, auf dem Friedensplatz. Von da an jährlich und von Mal zu Mal größer. Wir waren im Stadtpark mit mehreren Bühnen und hatten Gäste aus ganz Sachsen-Anhalt zu Besuch. Nach der Polizei-Strukturreform änderte sich das. Die Kapazitäten waren nicht mehr vorhanden. Also fand man die Lösung, die Veranstaltung im kleineren Format in den Nordpark zu verlegen.
Sie wurden häufig als Experte engagiert für verschiedene Radio- und Fernsehformate, unter anderem Kripo Live und Tatort Sachsen-Anhalt beim MDR, aber auch Akte auf SAT.1 und weitere Sendungen. Was hat Ihnen am meisten Spaß gemacht?
Am meisten Spaß machte mir das Format, das ich ab 2010 drei Jahre lang gemeinsam mit Anja Walczak beim MDR als Teil von Sachsen-Anhalt heute produzierte. Da sind wir zweimal im Monat mit einem Fernsehteam vor Ort gewesen und haben anhand von aktuellen Kriminalfällen Prävention betrieben. Wir simulierten kriminelle Vorgehensweisen mit versteckter Kamera und klärten das dann mit offener Kamera auf.
Sie sind seit sieben Jahren pensioniert und kommen ursprünglich aus Klietz, bei Havelberg, im Norden Sachsen-Anhalts. Was hält Sie nun in Magdeburg?
Magdeburg ist entgegen vielen Unkenrufen eine tolle Stadt. Es ist nicht nur das viele Grün, auch der Fluss macht eine ganze Menge aus. Ich wohne seit 1970 hier und habe hier viele soziale Kontakte. Besonders viel wert ist mir mein bunter Bekannten und Freundeskreis. Noch dazu bin ich hier in vieles involviert. Ich bin bei den Senioren-Sicherheitsberatern, habe eine Kolumne auf der Ratgeberseite der Volksstimme und leite meine eigene Talkshow in der Magdeburger Zwickmühle. Da hole ich in unregelmäßigen Abständen bundesweite Prominenz aus Kunst, Sport und Politik zum Gespräch ins Haus.
Was haben Sie für die Zukunft vorgesehen?
Ich wünsche mir, dass die Zusammenarbeit zwischen den Senioren-Sicherheitsberatern und der Polizei reaktiviert wird. Außerdem hoffe ich, dass wir mit dem neugegründeten Verein Toleranz Leben und Lernen (TOLL e. V.) von Juliana Gombe, für den ich als Pressesprecher tätig bin, vielen Menschen, Migranten wie Deutschen, helfen und zwischen den Kulturen vermitteln können.
Juni 2016
Interview aus INTER.VISTA 3
Vista.schon?
Lothar Schirmer wuchs in Klietz (Altmark) auf und fing 1970 bei der Kriminalpolizei in Magdeburg an. Nach der Wende baute er mit Kollegen den Bereich der Kriminalpolizeilichen Beratung auf, aus dem später das Dezernat Kriminalpolizeiliche Prävention wurde. Seit 1991 ist er regelmäßig ein gefragter Experte in verschiedensten lokalen und überregionalen Medien, unter anderem bei der Volksstimme und beim MDR. Seit seiner Pensionierung 2010 betätigt er sich weiterhin in der Kriminalprävention als Mitglied der Magdeburger Senioren-Sicherheitsberater. Abseits davon lädt er jeden zweiten bis dritten Monat prominente Gäste in seine Talkshow Mit Schirmer, Charme und Melone in die Magdeburger Zwickmühle ein. Magdeburg beschreibt er als grün, erlebenswert und reich an Potential. Und ganz nebenbei hat er für seinen Heimatort Klietz eine Internetseite www.klietz-am-see.de aufgebaut.
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