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Silke Grunert

Rasanter, dichter, hektischer. Unsere Gegenwart ächzt unter allen möglichen Beschleunigungen. Doch gilt das für alle? In der unscheinbaren Magdeburger Kneipe Zolleck ticken die Uhren offensichtlich langsamer. Inter.Vista besucht die FCM-Anhängerin und Kneipenbesitzerin Silke Grunert, die viel Wert darauf legt, dass in ihrer Kneipe alles normal zugeht. Alle sind hier eine Familie.

Interview und Fotos: Julian Seemüller

Julian Seemüller, Inter.Vista

Wie viele Fässer Bier wurden 2018 am Tag des FCM­-Aufstiegs geöffnet?
Eigentlich wurde das ja nicht direkt am Aufstiegstag entschieden, sondern schon beim Kölner Spiel. Aber natürlich ist so einiges an Bier geflossen. Mehr als sonst. Die Freude war groß, nachdem sich das Ganze erst ewig hingezogen hatte. Beim letzten Spiel auswärts in Lotte ist auch eine Menge an Bier geflossen, auf der Hin- und Rückfahrt.

Für Sie als Dauerkarteninhaberin …
Und Mitglied!

… dürfte der Tag ja bleibende Erinnerungen hinterlassen haben.
Sicher! Als wir nach so vielen Jahren des Stillstands in die dritte Liga aufstiegen, war das schon das Größte. Und jetzt zweite Liga zu spielen ist, als wäre ein Traum wahr geworden. Die Jungs halten einfach zusammen, Fans passen gegenseitig auf sich auf. Deshalb ist hier auch noch nie groß was passiert. Keiner beschimpft oder haut sich, es ist einfach eine schöne Gemeinschaft in Magdeburg.

Wird das Thema Kommerz mit dem Aufstieg des 1. FCM größer? Was ändert sich?
Eigentlich nichts. Wer Fan ist, ist Fan. Da wird weiter hingegangen, gekämpft, geschrien und gesungen. Aber ganz ohne Kommerz geht’s heute nicht mehr, oder?

Inter.Vista, Zolleck, Foto: Julian Seemüller

Inter.Vista, Zolleck, Foto: Julian Seemüller

Der 1. FCM befindet sich derzeit auf dem 16. Platz, es ist nicht leicht in der zweiten Liga. Wie macht sich die Lage nach einem misslungenen Heimspiel im Zolleck bemerkbar?
Gar nicht. Als Fan ist man treu – in guten wie in schlechten Zeiten. Wir sind keine Schönwetter-Fans. Dass man nur rausgeht, wenn es gut läuft, das gibt es hier nicht. Wir gehen auch ins Stadion, wenn wir danach mit Tränen in den Augen nach Hause kommen.

Die Stimmung im Stadion ist sehr geschlossen und familiär. Wie ist die Atmosphäre im Zolleck?
Dafür müssten Sie mal herkommen. (lacht) Da wird gesungen. Selbst bei einem schlechten Spiel ist die Stimmung am Ende des Abends nicht schlecht. Man diskutiert natürlich erst einmal darüber und dann werden die FCM-Lieder geträllert. Egal, ob drinnen oder im Biergarten. Das ist eben Familie. Klar ärgert man sich, aber das nächste Halbjahr wird besser. (schmunzelt)

»Betrunkene Männer sind nichts anderes als kleine Kinder.«

Wie abhängig ist das Zolleck von den FCM­-Fans? Was passiert in der Sommer­ oder Winterpause?
Ich habe meine Stammgäste. Da sind auch viele Handball-Fans dabei. Ab und an kommt mal ein Handballer selbst vorbei oder ein Fußballspieler. Man kennt sich privat so ein bisschen. Wir machen hier auch Feiern. Oft kommen auch meine Freundinnen vorbei. Wir Frauen halten das hier mit unseren Sektchen so ein bisschen am laufen. (lacht) Wir fahren auch mal zusammen weg, Tagesausflug oder Konzert. Den meisten gefällt die Atmosphäre hier und sie kommen gerne mal wieder.

Welche Art von Kundschaft haben Sie? Beschreiben Sie mal diesen ›Menschenschlag‹?
Vom Immobilienhändler über die Versicherungskauffrau bis hin zu Leuten aus dem Stadtrat, die mal ein paar schön gezapfte Biere trinken wollen. Eigentlich bunt gemischt. Leute von der Deutschen Post, von der Bank, selbstständige Bauunternehmer. Natürlich auch Rentner, die allein leben, mal reden oder unter Leuten sein wollen. Oder Jüngere aus der Stadt, weil es gemütlich und urig ist und weil man rauchen kann. Das ist heutzutage viel wert. (lacht) 

Mal abgesehen vom Fußball. Worüber spricht man sonst noch im Zolleck?
Familie, Politik, so gut wie alles. Wir helfen uns, wenn jemand krank ist und bei allen Problemen, die das Leben so mit sich bringt. Zum Beispiel, wenn sich einer scheiden lässt. Es gibt Abende, da sitzen wir zusammen und füllen Formulare für Hartz IV-Empfänger aus. Manche reden auch nur übers Essen oder die Arbeit. Es gibt auch eine Skat-Clique, die regelmäßig kommt. Junge und Ältere. Natürlich ist Sport immer ein Thema, weil Magdeburg ja eine Sportstadt ist. Und nicht nur das, sondern unsere Heimatstadt. Wir freuen uns über alle Siege, auch bei Handballern oder Kanuten.

Inter.Vista, Zolleck, Foto: Julian Seemüller

Inter.Vista, Zolleck, Foto: Julian Seemüller

Dann kommt man also auch bei privaten Problemen hierher oder wenn man Hilfe benötigt?
Ja, freilich. Wir haben auch viele, die nicht mehr so gut klar kommen und beispielsweise keine schweren Dinge tragen können. Dann bringt man mal für jemanden eine Kiste Milch mit oder hilft beim Tragen. Jeder weiß, dass er hierher kommen kann und dass ihm auch geholfen wird. Diese bunt gemischte Großfamilie, die hier zusammenkommt, benimmt sich auch, sonst schimpfe ich. (lacht) Es ist wie früher, zu DDR-Zeiten: Familie. Hier ist wirklich jeder hilfsbereit.

Wie würden Sie die Ausrichtung der Kneipe beschreiben? Hier geht es nicht nur um Umsatz, oder?
Ohne den geht es nicht. Natürlich sind wir eine ›Fankneipe‹, das hat sich so entwickelt. Der FCM hat ja früher auch schon gespielt, in der vierten Liga. Da saßen wir im Zolleck sonntags mit nur zehn Mann und das war’s. Es geht mir um das große Ganze. Das Familiäre, normal Menschliche, das Runterkommen. Viele, die von der Arbeit kommen, gehen gar nicht erst nach Hause. Die stehen dann im Blaumann am Tresen. Einfach normal sein.

Das Zolleck gibt es schon lange.
Seit 1992. Aber damals war ich noch nicht die Besitzerin.

»Wir gehen auch ins Stadion, wenn wir danach mit Tränen in den Augen nach Hause kommen.«

Peters Zolleck hieß das anfangs. Die Kneipe wirkt wie ein Fels in der Brandung. Woher kommt diese Beständigkeit?
Ich denke, es ist einfach die Zusammengehörigkeit. Klar, jeder muss heute Geld verdienen, sonst könnte ich hier zuschließen. Das spielt natürlich eine Rolle, aber das Zwischenmenschliche ist mir das Wichtigste. Und die kleinen Sachen, die nicht wehtun, die nichts kosten: Guten Tag, Auf Wiedersehen, Bitte und Danke. Das ist erstmal Grundsatz hier bei mir. Sich zu benehmen, so wie man es früher noch gelernt hat. So trete ich auch jedem Gast entgegen, egal, welcher Herkunft. Man redet hier ganz normal miteinander, man kann Mensch sein. Wenn ich woanders in Magdeburg hingehe, dann ist das meist anonymer. Das ist wahrscheinlich so, weil fast alles größer ist als mein Zolleck.

2001 übernahmen Sie das Zolleck. Was haben Sie davor gemacht und wie kam es zu der Entscheidung?
Seit 1992 hatte ich schon hier gearbeitet, damals unter Peter Griel. Immer nur ein paar Stunden, weil meine Tochter noch kleiner war, abends weniger. Die Herrschaften sind dann in Rente gegangen. Es wurde dann diskutiert, was mit der Kneipe passieren soll: Willst du sie kaufen oder pachten? Und dann entschloss ich mich, das Zolleck zu kaufen.

Was haben Sie davor gemacht?
Zu DDR-Zeiten war ich in der Volksbildung tätig. Nebenbei arbeitete ich schon in der Gastronomie. Durch meine Tochter lernte ich viel, was mir auch in dem Bereich half. Betrunkene Männer sind nichts anderes als kleine Kinder. Machste eben Gastronomie. (lacht)

Sie haben einen Spitznamen. Wie kam es dazu?
Viele sagen einfach ›Mutti Zolleck‹ oder ›Mutti Silke‹ oder bloß Silke. Ich weiß auch nicht, wie das aufkam. Jeder nennt mich eben, wie er mag. Im Stadion passiert es manchmal, dass jemand ›Mutti!‹ ruft. Automatisch schau ich dann hin. Oft sind es welche, die mal im Zolleck vorbeikommen. Wenn ich mich manchmal über einen Betrunkenen ärgere, habe ich auch schon gesagt: Benimm dich, sonst bekommst du was von Mutti auf die Ohren. Vielleicht kam es ursprünglich daher.

»Solange Bewegung herrscht, ist alles in Ordnung.«

Wie lange wollen Sie das noch machen?
Ein paar Jährchen sollen es wohl noch werden, wenn die Gesundheit mitmacht. Muss ich ja auch, wegen der Rente.

In 17 Jahren Zolleck ist in Magdeburg viel passiert. Politisch ist beispielsweise die AfD recht stark geworden. Wie machen sich Veränderungen in der Stadt im Zolleck bemerkbar?
In die Haare kriegt man sich hier nicht. Jeder kann seine Meinung sagen. Allerdings bleibt es immer auf einer friedlichen Basis. Geschrien wird hier nicht. Es ist auf jeden Fall viel passiert, nicht nur politisch. Ich finde das aber auch schön, dadurch ist Bewegung in der Stadt: Leute regen sich über den Tunnel auf oder über die Brücke. Aber im Endeffekt ist das alles besser, als wenn es keine Veränderung gäbe, oder? Ist doch im privaten Leben genauso: Solange Bewegung herrscht, ist alles in Ordnung.

Inter.Vista, Zolleck, Foto: Julian Seemüller

Inter.Vista, Zolleck, Foto: Julian Seemüller

Nur Veränderung ist beständig?
So in etwa. Und Bezug nehmend auf die AfD: Das muss jeder für sich wissen. Ich habe es lieber, wenn jemand konkret sagt, was er vorhat und nicht dieses ewige Gerede darüber, was blöd läuft. Ich muss einen Standpunkt haben und wissen, wie ich etwas ändere.

Können Sie den typischen Magdeburger in drei Worten beschreiben?
Manchmal ein bisschen ›blubberig‹, also alles so wild drauf los. Teilweise auch stur, aber nach zwei, drei Sätzen nett und freundlich. Kommt jemand aus dem ländlicheren Gebiet, dann fällt die Sturheit manchmal wirklich auf. Die erwidern drei Worte auf fünf Sätze. Wir haben durch den Yachthafen oft Leute aus anderen Städten hier im Zolleck. Die sind immer begeistert, wie schnell man mit anderen Gästen ins Gespräch kommt.

Und Magdeburg in drei Worten?
Sehr schön geworden.

Geworden?
Ja. In den Jahren nach der Wende auf alle Fälle. Was in der kurzen Zeit geschaffen wurde, ist schon erstaunlich. Mir gefällt meine Heimatstadt. Ich finde auch schön, dass sie sich immer weiterentwickelt, dass sich Dinge ändern und verbessert werden: zum Beispiel die ganze Bauerei am Domplatz, das Hundertwasserhaus. Ich finde es Quatsch, alles so zu bauen, wie es früher war. Neue Sachen können doch schön sein. Da sind wir wieder beim Thema: Bewegung muss sein. Ich wohne gerne hier. 

»Wir Frauen halten das hier mit unseren Sektchen so ein bisschen am laufen.« 

Wie sieht für Sie ein perfekter Tag im Zolleck aus?
Wenn meine Mannschaft spielt, wenn wir Heimspiele haben. Dann bin ich früh hier und die Fahne wird gehisst. Und ich liebe das Warten auf die Gäste: Wir haben uns eine Woche nicht gesehen und erzählen dann viel: Was hast du so gemacht? Und natürlich das Spiel. Es ist so schön, wenn alle da sind. Meine schöne große Gemeinschaft.

Und am besten, der 1. FCM gewinnt.
Das wird schon werden.

Dezember 2018
Interview aus INTER.VISTA 7

Vista.Schon?

Silke Grunert, Jahrgang 1957, Besitzerin der FCM-Kneipe Silkes Zolleck, wird wahlweise ›Silke‹, ›Mutti‹ oder ›Mutti Zolleck‹ gerufen. Sie lebt Zeit ihres Lebens in der Elbstadt. Wenn sie nicht hinter dem Tresen steht, lässt sie sich gerne im Café M2 am Hasselbachplatz bedienen. In ihrem Zolleck schätzt sie die familiäre Atmosphäre, die besonders unter der Stamm kundschaft herrscht. Angst vor Veränderung hat Silke nicht. Für sie gilt: Bewegung muss sein!

 

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