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Burkhard Lischka

Der studierte Jurist hat nicht nur das Sauerland gegen die Börde eingetauscht, sondern auch seine politische Heimat gewechselt. Wenn er gerade nicht mit seinem PKW in der Republik unterwegs ist, sucht er die Nähe zu den Wählerinnen und Wählern, gerne auch mal bei Kaffee und Kuchen. Wie ein nächtlicher Anruf ihn zum Berufspolitiker machte und wofür er einen Schlag mit dem Regenschirm kassierte, erzählt er uns zu Beginn des neuen Jahres. Mit dem Wissen, dass er einen Tag nach unserem Interview bekannt gab, sein SPD-Bundestagsmandat abzugeben, sind einige Interviewpassagen besonders interessant.

Interview: Lisa Marie Felgendreff und Simeon Laux  | Fotos: Lara-Sophie Pohling

Wie sind Sie heute zur Hochschule gekommen?
Mit dem Auto, weil ich heute mehrere Termine habe, die ich anders nicht erreichen kann.

Dienstwagen oder privates Auto?
Privater PKW. Bundestagsabgeordnete haben keinen Dienstwagen. Das muss ich allerdings immer wieder erklären. Als ich neu im Bundestag war, stellte ich mich beim Oberbürgermeister von Schönebeck vor. Der stürmte auf mich zu, um mir zu zeigen, wo mein Fahrer im Hof parken könne. Welcher Fahrer? Die Politik bringt es mit sich, dass ich im Jahr etwa 50.000 Kilometer mit dem Auto fahre. Ich komme viel rum, auch an Orte, deren Namen ich noch nie gehört habe. Zu meinem Wahlkreis gehört ein Ort namens Monplaisir. Ich dachte zuerst, das liegt in Frankreich. (lacht)

Sie wohnen seit 1995 in Magdeburg. Wie sind Sie hier an der Elbe gelandet?
Eher zufällig. Ich studierte Jura, danach macht man drei Jahre Referendariat bei Gerichten, bei der Staatsanwaltschaft und einer Verwaltung. Und dabei führte ich eigentlich eine Strichliste, was ich alles nicht werden wollte: Richter und Rechtsanwalt nicht, Staatsanwalt vielleicht, Verwaltung aber auch nicht. (lacht) Ein Freund von mir war Notarassessor in Brandenburg. Bis dahin kannte ich diese Notariatsform gar nicht, sondern nur Anwälte, die zugleich Notar waren. Noch während meines Examens bewarb ich mich in Sachsen-Anhalt. Zwei Tage nach meiner mündlichen Prüfung saß ich im Justizministerium und bekam noch abends die Zusage. So landete ich hier und habe das nie bereut. 

Wie sah denn Ihre erste Wohnung hier in Magdeburg aus?
Ich wohnte damals in Stadtfeld in der Goethestraße. Zur Studien- und Referendarzeit war mein Geldbeutel immer recht knapp. Es war schierer Luxus, in einer Dreizimmerwohnung mit Balkon zu wohnen. Magdeburg erlebte ich regelrecht als positiven Kulturschock, das war für mich wie eine Weltstadt. Ich komme aus dem Sauerland und war ganz baff, dass ich zum nächsten Kino nicht 40 Kilometer fahren musste.

Wo sind Sie damals gerne hingegangen?
Die neue Stadt wollte ich erstmal erkunden. Zu Fuß, aber auch mit dem Auto und am besten ohne Stadtplan. Ich bin einfach drauflos. So kam auch nach und nach der Freundes- und Bekanntenkreis dazu und ich landete recht schnell bei Spielen vom SCM.

Gibt es Orte, die Sie damals wie heute gern besuchen?
Ein Faible habe ich für den Magdeburger Zoo, der sich toll entwickelt hat. Außerdem ist der Rotehornpark ein toller Platz. Um diesen Park in seinem vollen Umfang zu entdecken, braucht es schon ein paar Ausflüge.

Inter.Vista, Burkhardt Lischka, Foto: Lara-Sophie Pohling

Inter.Vista, Burkhard Lischka, Foto: Lara-Sophie Pohling

Gehen wir zurück in Ihre Jugend. Schon in Ihrer Schulzeit waren Sie sehr engagiert. Sie waren Klassensprecher, Schülersprecher und sogar Stadtschülersprecher. War das damals cool und kam das gut bei den Mädels an?
Bei den Mädchen brachte es mir keine Vorteile, aber es war mein Einstieg in die Politik. Unser Gymnasium sollte damals einen Anbau bekommen und als Schüler forderten wir vehement eine Cafeteria. Damit sie auch halbwegs cool wird, wollten wir sie selbst betreiben. Der Direktor meinte, dass er für so einen Quatsch kein Geld hätte. Der Bürgermeister sagte dasselbe, aber wir ließen nicht locker. Dabei lernte ich viel: Du musst hartnäckig sein, dich mit anderen verbünden und brauchst eine klare Position. Einen Schülersprecher konnte der Direktor nicht so schnell wegschicken, wie den Schüler Lischka aus der letzten Reihe. Die Cafeteria gibt es übrigens noch heute. 

»Ohne Leidenschaft geht es nicht.«

Als Abiturient waren Sie der Friedens­- und Umweltbewegung sehr verbunden. Waren Sie ein richtiger Aktivist?
Zur Sorge meiner Eltern war ich sehr aktiv, sowohl in der Ökologie- als auch in der Friedensbewegung. Ich war auf vielen Demonstrationen. Meine Eltern bekamen da bestimmt auch das eine oder andere graue Haar, weil ich mich wenig um die Schule kümmerte.

Waren Sie auch bei Sit­-Ins?
Ja, ich kann mich erinnern, dass wir mal in einem Nachbarort aus Protest eine Straßenkreuzung blockierten. Das Ganze wurde aber relativ friedlich aufgelöst.

Was ist bei Ihnen von dieser Lebenseinstellung noch geblieben? Die Musik?
Das war ein Lebensgefühl, bei dem Musik dazugehörte. Wenn ich heute eine Platte von Pink Floyd auflege, dann guckt mein 21-jähriger Sohn eher verwundert und fragt sich wahrscheinlich, was für komische Musik sein Papa hört. Ich werde immer ein bisschen sentimental, wenn ich Dokumentationen von den großen Friedensdemonstrationen aus den Achtzigern sehe.

Bevor Sie Mitglied der SPD wurden, waren Sie bei den Grünen. War das damals trendy?
Die Grünen griffen Umweltthemen, den Kampf gegen Atomenergie und Aufrüstung auf. Viele jüngere Menschen sahen das bei anderen Parteien nicht wirklich vertreten. Die meisten, mit denen ich mich engagierte, waren damals so zwischen 16 und 25, mit ein paar Fünfzigjährigen dabei. Sehr jung. Heute muss ich feststellen, dass wir zu alten Säcken geworden sind.

Sie absolvierten Ihren Zivildienst in einer geschlossenen Kinder­- und Jugendpsychiatrie und er wähnen oft, dass diese Zeit Sie stark prägte. Welche Erfahrungen beeinflussten Sie auch in Ihrer Politik?
Der Zivildienst war eine bewusste Entscheidung. Ich hatte den Eindruck, dass Ost und West wechselseitig ein irrsinniges Waffenarsenal aufbauen. Es hätte gereicht, dass einer der alten Männer in Washington oder Moskau die Nerven verliert, auf den Knopf drückt und die Welt gänzlich auslöscht. Insofern wollte ich meine Kriegsdienstverweigerung nicht mit Gewissensgründen, sondern durchaus politisch begründen, was dazu führte, dass ich erst im dritten Anlauf beim Verwaltungsgericht anerkannt wurde. Die Zeit überbrückte ich am Fließband in einer Papierfabrik. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie merkte ich, dass viele Menschen nicht auf der ›Sonnenseite des Lebens‹ stehen und schon in früher Kindheit fürchterliche Dinge ertragen müssen. Es ist gut, sich auch heute noch daran zu erinnern, dass es viele Menschen in diesem Land gibt, denen das Leben viel schlechter mitgespielt hat als mir.

Gab es einen Moment, der Ihnen besonders nahe ging?
Zu uns kam ein Zwölf- oder Dreizehnjähriger, der einen Menschen umgebracht hatte. Man lernt mit der Zeit so jemanden dann als Individuum kennen und schätzen und kann den Menschen hinter der Tat sehen. Ich habe mich damals auch um einen kleinen Jungen gekümmert, der am Down Syndrom erkrankt war. Er hatte den Spitz namen ›Lulu‹, konnte sich nur schwer artikulieren, hatte Schleim in der Lunge und keinen hohen IQ. Aber wenn so jemand kommt, dich ganz fest drückt und mit strahlenden Augen anguckt, das begleitet dich ein Leben lang. Ich erinnere mich an ganz innige Momente.

Inter.Vista, Foto: Lara-Sophie Pohling

Inter.Vista, Foto: Lara-Sophie Pohling

Warum haben Sie sich dann für Jura entschieden?
Ich überlegte ernsthaft, ob ich nach meinem Zivildienst Krankenpfleger werden sollte. Auch während meiner Semesterferien arbeitete ich dort, weil ich mein Studium teilweise selbst finanzieren musste. Mein Weg zu Jura war ganz banal. Damals gab’s die Fernsehserie Liebling Kreuzberg, in der ein Rechtsanwalt kniffelige Fälle löste, hin und wieder kleine Halunken jagte, ansonsten Wackelpudding aß und flammende Plädoyers hielt. Ich dachte, dieser Beruf ist mir wie auf den Leib geschneidert. Abwechslungsreich, spannend, und gut quatschen konnte ich auf jeden Fall. (lacht) Im Studium stellte ich schnell fest, dass Jura nur wenig damit zu tun hatte und vor allem ein Büffelfach war. Aber unterm Strich bereue ich meine Berufswahl nicht.

1989 wechselten Sie von den Grünen zur SPD. Was war der Auslöser?
Über Jahre erlebte ich, wie die Grünen sich intern ständig stritten. Ich hatte das Gefühl, dass man gar nicht mehr zur eigentlichen Politik kommt. Die SPD hat im Laufe der Jahre durchaus auch ihre Position verändert, Themen, die mir wichtig waren, aufgegriffen und Fehler korrigiert. Insofern war es fast zwangsläufig, dass ich zur SPD wechselte. Manche Grünen-Parteifreunde riefen dann an und fragten, wie es bei der SPD so sei. Ich antwortete denen: Das ist eigentlich wie bei uns früher, die sind bloß alle zwanzig Jahre älter. (lacht)

»Es werden andere Maßstäbe gesetzt, die Menschen kennen einen.«

Nach Ihrem Studium wurden Sie unter anderem Geschäftsführer der Notarkammer Sachsen­-Anhalt. Warum entschieden Sie Sich dann doch hauptberuflich für die Politik?
Ich wollte dafür kämpfen, dass die Dinge besser werden. Wenn man einmal in der Politik Blut geleckt hat, lässt es einen nie so richtig los. Der Wechsel in die Politik war allerdings keine bewusste Entscheidung. 2006 bekam ich einen Anruf mitten in der Nacht. Damals ging die SPD zum ersten Mal eine Koalition mit der CDU in Sachsen-Anhalt ein. An dem Abend saßen der damalige Ministerpräsident Professor Böhmer und der künftige Vizeministerpräsident Jens Bullerjahn zusammen und über legten, wen sie als Minister und Staatssekretäre in die Regierung schicken. Sie riefen mich nachts um halb zwei an: Ob ich mir vorstellen könne, Staatssekretär im Justizministerium zu werden. Damals habe ich einen klassischen Anfängerfehler gemacht. Ich fragte nämlich, wie viel Zeit ich zum Überlegen habe. Die Antwort: fünf Minuten. Heute würde ich sagen: Seht mal zu, wenn ihr bis morgen früh keinen gefunden habt, dann könnt ihr euch nochmal melden. Ich sagte ziemlich spontan ›Ja‹, ohne richtig zu wissen, worauf ich mich da als Quer einsteiger einlasse. Bereut habe ich das aber nicht, und es war mindestens so spannend wie Liebling Kreuzberg. Für mich war aber eines klar: Bis zur Rente will ich nicht Politik machen, sondern irgendwann in meinen alten Beruf zurückkehren: mit 53 und nach zwölf Jahren in der Politik ist das absehbar. 

Haben Sie schon genauere Pläne?
Ich hatte vorher elf Jahre einen Job im Notariat, der mir viel Spaß machte, an dem mich reizte, dass ich ganz unterschiedliche und konträre Interessen zu einem Kompromiss oder Vertrag zusammenbringen muss, der hält und mit dem beide Seiten zufrieden sind. Das ist mir auch bei Verhandlungen in der Politik zugutegekommen. Insofern gehe ich auch gern in meinen alten Beruf zurück. Es wäre auch vollkommen absurd, wenn ich stattdessen etwas ganz Neues anfangen würde.

Inter.Vista, Burkhardt Lischka, Foto: Lara-Sophie Pohling

Inter.Vista, Burkhard Lischka, Foto: Lara-Sophie Pohling

Sie sind seit dreißig Jahren Mitglied der SPD. Was reizt Sie an sozialdemokratischer Politik?
Die SPD als älteste demokratische Partei in Europa hat mittlerweile 155 Jahre auf dem Buckel. Bei dieser Partei imponierte mir immer das Eintreten für ein friedliches Deutschland, einem Land der guten Nachbarschaft. Ein Land, das sich als fester Bestandteil eines geeinten Europas sieht; für ein Deutschland, in dem die Maxime Helmut Schmidts gilt: Es ist besser, hunderte Stunden zu verhandeln, als eine Minute zu schießen. Das war eine große historische Leistung, dass man in Europa nach zwei Weltkriegen sagte, wir tauschen jetzt das Schlachtfeld gegen den Verhandlungstisch. Es tut mir in der Seele weh, wenn diese große Leistung für manche Menschen in den Hintergrund tritt. Natürlich steht die SPD daneben auch für gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, sie versucht sich um jene Menschen zu kümmern, mit denen es das Leben nicht so gut meint. Unabhängig von seiner sozialen Herkunft sollte jeder etwas aus seinem Leben machen dürfen. Politik ist dafür da, dabei Hürden abzubauen. Das hat mir an der SPD immer imponiert. Das bedeutet nicht, dass die SPD nicht auch Fehler gemacht hat. Sie ist aber auch immer bereit gewesen, Positionen zu überdenken und zu korrigieren. Ich bin mir sicher, dass es die SPD bei allen momentanen Schwierigkeiten schafft, anhand dieser Ideale und Werte wieder zeitgemäße Antworten zu geben, so dass Menschen sagen können: Das macht die SPD für mich wieder attraktiv und wählbar. 

Wie hat sich Ihr Leben verändert seitdem Sie Politiker sind?
Es werden andere Maßstäbe gesetzt, die Menschen kennen einen. Es ist ja nicht ganz unbekannt, dass Rauchen mein Laster ist. Als ich mal auf dem Magdeburger Hauptbahnhof einen Anruf annahm und mich zwei Meter außerhalb der Raucherinsel stellte, bekam ich von einer älteren Dame einen Schlag mit dem Regenschirm: »Herr Lischka, Sie sind ja ein Vorbild für unsere Jugend, sie müssen sich in den Raucherbereich stellen.« (lacht) Das ist ein anderes Leben, als der Lischka aus dem Notariat. Man muss sich daran gewöhnen, angesprochen zu werden. Zuerst bekommt man einen Schrecken, was will die Person von mir? Aber oft ist es nett, man wird auch mal nach Selfies gefragt. Unter 82 Millionen Deutschen muss es ja auch ein paar Verrückte geben, die mit dem Lischka ein Selfie machen wollen. 

Wie viel Leidenschaft gehört zum Anforderungsprofil eines jeden Politikers?
Ohne Leidenschaft geht es nicht. Hannah Arendt hat einmal sinngemäß gesagt, Politik sei die Liebe zum Leben. Du musst neugierig sein, Willen und Hartnäckigkeit haben, um Dinge zu verändern und auch im Kleinen zu helfen. Die Arbeit eines Bundestagsabgeordneten besteht zum großen Teil darin, alltägliche Probleme zu lösen, also sich zu engagieren, wenn jemand beispielsweise Ärger mit dem Jobcenter oder der Krankenkasse hat. Wenn ich nach zehn Jahren Bundestag an andere Abgeordnete denke, und das meine ich auch unabhängig von der Parteizugehörigkeit, dann sind die meisten mit Herzblut dabei und sehr engagiert. Es ist ein sehr zeitaufwändiger Job, unter 80 Stunden pro Woche bekommst du so ein Politiker leben nicht hin. Freie Wochenenden sind selten. Viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten sich akribisch in ihre Themenfelder ein und sind echte Fachleute, obwohl sie nie in der Tagesschau auftauchen. Wie im normalen Leben findest du auch hier ganz hervorragende Menschen und welche, mit denen du weniger zu tun haben willst. Aber so soll Demokratie ja sein, ein Spiegel der Gesellschaft vom Arbeiter bis zum Professor. Mit ihren ganzen Fähigkeiten, aber auch Macken.

Und wie sieht es mit der Leidensfähigkeit aus?
Als Bundestagsabgeordneter ist man die Hälfte des Jahres gar nicht zu Hause, sondern in Berlin. Als ich im Jahr 2009 in den Bundestag gewählt wurde, war meine Tochter gerade vier. Ich fahre meist gegen sechs oder sieben Uhr los Richtung Berlin. Eines Morgens klammerte sich meine Tochter an mein Bein und brüllte: Scheiß Berlin! Das setzt einem schon zu, da leidest du wirklich. Inzwischen trainiert meine Tochter Kanusport, aber das rauscht leider viel zu oft an mir vorbei. Als ich sie endlich mal beim Kanufahren auf dem Salbker See sehen wollte, war ich eine Viertelstunde später da als vorgenommen. Wie das so ist, quetscht man es zwischen die Termine und manche Vortermine dauern dann doch fünf Minuten länger. Als ich von meinem Auto los lief, habe ich nur noch ihren Namen über die Lautsprecheranlage gehört, aber den Zieleinlauf verpasst. Das sind Momente, die mich sehr traurig machen. Die gängige Vorstellung von Leidensfähigkeit zielt meist darauf ab, dass man sich in Verhandlungen streitet oder anbrüllt und keine Schwäche zeigt. Das gibt es tatsächlich, aber es sind meistens vernünftige und sachliche Diskussionen; das sehe ich ziemlich cool. Insofern leide ich nicht wirklich unter diesen Klischees. Eher unter der Erfahrung, dass ich das Leben der Menschen, die ich liebe, nicht nur verpasse, sondern bestimmte Momente auch nicht wiederholen kann. Es gibt natürlich auch lustige Situationen. Als Staatssekretär fuhr ich immer sehr früh ins Justizministerium. Mein Sohn war im Grundschulalter und ich brachte ihn vorher zur Schule. Manchmal hob ich ihn mit der ›Räuberleiter‹ über das noch verschlossene Rolltor der Schule. Meine Frau fragte ihn mal, ob das klappt, wenn ich ihn morgens zur Schule bringe. Er meinte, dass alles ganz gut ist. Es sei nur blöd, wenn er immer so alleine auf dem Schulhof rumstehe. (lacht) Insofern sollte man nicht alles unter dem Begriff ›Leiden‹ sehen. Diese Erfahrung mache nicht nur ich. Berufspolitiker ist eben ein zeitaufwändiger Job.

»Ich habe mich in der Politik eigentlich nie um irgendeinen Job gerissen.«

Sie sind innenpolitischer Sprecher der SPD-­Bundestagsfraktion. Welche Aufgaben bringt dieser Job mit sich?
Ich habe mich in der Politik eigentlich nie um irgendeinen Job gerissen. Der damalige Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann schob mich da quasi hin. Ein paar Wochen später war der Terroranschlag bei Charlie Hebdo in Frankreich. Dann kamen die steigenden Flüchtlingszahlen dazu. Die Innenpolitik dominierte in der Öffentlichkeit die Themen. In der vergangenen Legislaturperiode wurden vor allem im Bereich Innere Sicherheit und Migration im Wochentakt Gesetze verabschiedet. Das bindet einen erheblich ein. Das Innenministerium wurde in den vergangenen Jahren immer von Unionspolitikern geführt, aktuell von Horst Seehofer. Bei Verhandlungen sitzt dann der Innenminister vor einem, der ein Ministerium mit etwa 1.700 Mitarbeitern hinter sich weiß. Da sitzen dann in den Besprechungen die Staatssekretäre mit ihren Abteilungs- und Referatsleitern. Und auf der anderen Seite sitze ich, der das Pendant zum Innenminister bei der SPD sein soll. Mit gerade mal einer Referentin, die für Migration oder für Innere Sicherheit zuständig ist. Damit ist ein erheblicher Arbeitsaufwand und Druck verbunden, wenn ich nicht über den Tisch gezogen werden will.

Ihre Partei liegt bundesweit in Umfragen derzeit bei rund 15 Prozent. Wird sich die SPD künftig wieder ›Volkspartei‹ nennen können und wenn ja, wie kann das gelingen?
Beim Begriff Volkspartei muss man zwei Dinge auseinanderhalten. Wie sieht sich die Partei selbst? Die SPD verstand sich nie als Klientelpartei, sondern als Partei, die unterschiedlichste Interessengruppen und Gesellschaftsschichten vereint. Vom Arbeiter bis zum Professor, vom Handwerker bis zum Studenten. Ich glaube, dass unser Land viele Jahrzehnte mit dem Modell zweier starker Volksparteien sehr gut gefahren ist. Spaltung, Polarisierung und das Erstarken extremer Positionen haben wir lange nicht in dem Ausmaß gehabt, wie das in anderen europäischen Ländern zu beobachten war. Die zweite Ebene ist, dass man nur von einer Volkspartei sprechen kann, wenn man Ergebnisse erzielt, die deutlich oberhalb von 25 Prozent liegen. Dem Anspruch wird die SPD ohne jeden Zweifel momentan nicht gerecht. Bei vielen sind wir im Augenblick nur die Zweitliebsten. Wir stehen bei den Menschen unter besonderer Beobachtung. Viele warten nämlich darauf, dass die SPD wieder profilierter auftritt und das einlöst, wofür sie immer stand: Möglichst vielen Bevölkerungsgruppen politische Konzepte aufzuzeigen, wie man Dinge verbessert. Politik hat sehr lange von dem Versprechen gelebt, dass es den eigenen Kindern besser gehen wird. Aber diese Hoffnung ging bei vielen verloren. Sie haben den Eindruck, in Zukunft wird alles schlechter. Das stimmt zwar nicht, aber die SPD ist von dieser Erwartungshaltung in besonderem Maße betroffen.

Manche Menschen haben das Gefühl, die Politik habe den Bezug zur Realität verloren. Wie erleben Sie das?
Den Vorwurf, dass Politiker überhaupt nicht wüssten, wie das reale Leben funktioniere, kann ich aus meinen zehn Jahren im Bundestag nicht bestätigen. Eher das Gegenteil. Ich hatte hunderte Begegnungen, die ich in einem Notarbüro so nicht erlebt hätte. Hartz IV-Empfänger mit ihren Sorgen. Die alleinerziehende Mutter, die mir stolz erzählt, dass ihre drei Kinder zum Gymnasium gehen. Bis hin zum Multimillionär aus Sachsen-Anhalt, der eine tolle technologische Idee hatte und daraus ein erfolgreiches Unternehmen schuf. Diese Bandbreite an unterschiedlichen Biografien, Problemen und Charakteren hätte ich in einem anderen Job wohl nicht erleben können. Als Quereinsteiger und -aussteiger kann ich mit Fug und Recht sagen, dass Politikerinnen und Politiker einen großen Draht zum Leben haben. 

Inter.Vista, Burkhardt Lischka, Foto: Lara-Sophie Pohling

Inter.Vista, Burkhard Lischka, Foto: Lara-Sophie Pohling

War die Entscheidung, nicht mehr als Landesvorsitzender der SPD zur Verfügung zu stehen, der erste Schritt zum Ausstieg aus der Politik?
Den Landesvorsitz übernahm ich nach der verlorenen Landtagswahl eher gezwungener Maßen. Mit gerade mal zehn Prozent war die SPD in einer noch viel schwierigeren Situation als heute. Ursprünglich wollte ich das nur für zwei Jahre machen und ließ mich dann doch überreden, noch eine Wahlperiode dranzuhängen. Eine große Schwäche von mir, ich kann schlecht ›Nein‹ sagen. Der Landesvorsitz führte zu einer Doppelbelastung. Als Bundestagsabgeordneter, innenpolitischer Sprecher, Obmann im Parlamentarischen Kontrollgremium und Mitglied des Fraktionsvorstands bin ich vollkommen ausgelastet. Da ist es meiner Meinung nach nicht vernünftig, zusätzlich noch dauerhaft Landespolitik machen zu wollen. Das Ehrenamt als Landesvorsitzender ist mit großem Aufwand verbunden. Die SPD in Sachsen-Anhalt hat über 140 Ortsvereine und alle wollen den Lischka am liebsten gleichzeitig zu einer Ortsvereinssitzung einladen. Weil der Tag bekanntlich aber nur 24 Stunden hat und alles oberhalb einer 80-Stunden-Woche auf Dauer richtig ungesund ist, muss ich dann andere Dinge zurückfahren. 

»Du musst hartnäckig sein, dich mit anderen verbünden und brauchst eine klare Position.«

Welcher Teil Ihrer politischen Arbeit ist durch Doppelbelastung zu kurz gekommen?
In meiner ersten Bundestagswahlperiode verteilten wir Postkarten in Haushalten in Magdeburg und Schönebeck: »Wenn Sie mal einen Bundestagsabgeordneten zu Hause haben möchten, dann laden Sie ihn zum Kaffee ein. Er bringt dann auch den Kuchen mit.« Das waren über 200 Hausbesuche. Ich habe nur bereut, dass ich kein Tagebuch geführt habe. Das wäre ein super spannendes Buch gewesen mit lustigen, traurigen, bewegenden und teilweise sehr skurrilen Geschichten. Wenn man Bundespolitik macht und Landesvorsitzender ist, dann bekommst du so eine Sache wie die Hausbesuche nicht mehr hin, obwohl mir das am meisten Spaß machte. Unabhängig davon, ob die Leute die SPD gut oder schlecht finden. Wenn Leute anrufen, merkt man oft schon am Anliegen, an der Tonart oder am Aufregungsmodus, ob es AfD-Wähler sind. Ich komme auch gerne bei denen vorbei. Ich erinnere mich an jemanden, der sich schnell als AfD-Wähler outete. Wir haben dann zwei Stunden Kaffee getrunken und Kuchen gegessen und wir verabreden uns heute noch zu Spielen des SCM. Aber insgesamt musste ich so etwas aufgrund der Doppelbelastung zurückfahren. Dadurch ist mein persönlicher Spaß an der Politik in den vergangenen drei Jahren rapide gesunken. Ich will nicht verhehlen, dass ich manches Mal darunter gelitten habe, wenn ich in Parteigremien saß und dachte, jetzt würdest du lieber bei einem Kuchenbesuch sitzen, anstatt dich mit dem Haushaltsplan der SPD im Kreisverband XY zu beschäftigen.

Für die Familie bleibt bei all den Aufgaben wohl relativ wenig Zeit. Wenn Sie dann mal die Gelegenheit haben, was unternehmen Sie gerne zusammen?
Ich frage meine Kinder, wozu sie Lust haben. Ich sitze dann auch bei Veranstaltungen, zu denen ich ansonsten nicht gegangen wäre, wie die Zaubershow der Ehrlich Brothers. Meiner Tochter machte das großen Spaß. Mit meinem Sohn gehe ich total gerne zum Fußball. Es ist wichtig, auch mal Samstag oder Sonntag zu sagen: Heute kann ich euer Heimatfest nicht besuchen, meine Familie geht vor.

»Unter 82 Millionen Deutschen muss es ja auch ein paar Verrückte geben, die mit dem Lischka ein Selfie machen wollen.«

Seit 2011 gibt es Ihre Veranstaltungsreihe Lischka trifft, in der Sie mit vielen Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Sport sprechen. Wählen Sie die Themen und Fragen selbst aus?
Ja. Es gibt natürlich Mitarbeiter, die sich dazu Gedanken machen. So eine Veranstaltung funktioniert aber nur, wenn man sich auch selbst über die Leute informiert und sich in sie hineindenkt. Ich mache das ganz altmodisch mit Karteikärtchen und schreibe meine Fragen auf. Oft ergeben sich die Fragen aber erst im Gespräch.

Kevin Kühnert, Gregor Gysi und der Chauffeur der Kanzlerin waren schon zu Gast. Wen möchten Sie denn noch unbedingt auf Ihrer Couch sitzen haben?
Auf meiner jüngsten Veranstaltung habe ich unter anderem Familienministerin Franziska Giffey angekündigt. Ich versuche, immer politisch ausgewogen zu sein. Wenn es mir ein bisschen heikel erscheint, lasse ich manchmal das Publikum abstimmen, ob ich die Person einladen sollte. Bei Innenminister Horst Seehofer ging erstmal ein Raunen durch den Saal. Die Mehrheit hat sich dann für sein Kommen ausgesprochen. Insofern würde ich gerne mal eine Veranstaltung mit ihm machen. Ich als Moderator mache ja keine Politik, sondern stelle Fragen. Gerade bei Herrn Seehofer würde ich mich allerdings schwertun, ihm anderthalb Stunden das Podium unwidersprochen zu überlassen. Ansonsten fehlt mir an ehemaligen Politikern noch Altbundespräsident Gauck. Und wenn Frau Merkel in absehbarer Zeit aufhört, dann müsste ich mal schauen, ob ich da rankomme. Ich würde sie fragen, wie es ihr jetzt ohne Politik so geht. Als ich die Frage dem ehemaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer stellte, sagte er: »Wenn Sie dreimal hintereinander hinten ins Auto gestiegen sind und es fährt nicht los, dann wissen Sie schon, dass sich etwas verändert hat.« Wäre interessant, ob Frau Merkel die gleiche Erfahrung macht.

Und wen würden Sie auf gar keinen Fall einladen?
Extremisten, Leute die möglicherweise vom Verfassungsschutz beobachtet werden und die von Dingen träumen, die wir in Deutschland hoffentlich ein für alle Mal im vergangenen Jahrhundert überwunden haben.

In den 25 Jahren, in denen Sie in Magdeburg leben, hat sich die Stadt sehr gewandelt. Welche weiteren Veränderungen wünschen Sie sich?
Als ich Mitte der Neunziger herkam, hatte ich den Eindruck, dass viele Magdeburger mit ihrer Stadt fremdeln. Inzwischen hat sich das deutlich gewandelt. Die Magdeburger sagen mittlerweile stolz, dass sie aus ›Machdeburch‹ kommen und identifizieren sich mit ihrer Stadt. Ich wünsche mir vor allem, dass das so bleibt. Nach den riesigen Umbrüchen, die es hier nach 1989 gab und die für zwei Leben gereicht
hätten – Unsicherheiten, Sorgen, Ängste – hoffe ich, dass die Magdeburger aus der Entwicklung der vergangenen Jahre Selbstvertrauen schöpfen, um die aktuellen Probleme zu lösen und diese Stadt mit Optimismus weiterzuentwickeln.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lischka.
Ich danke! Das war ja wie bei ›Lischka wird getroffen‹. (lacht)

Januar 2019
Interview aus INTER.VISTA 7

Vista.Schon?

Burkhard Lischka, geboren 1965, legte nach Abitur und Zivildienst beide Staatsexamen in Jura mit Prädikat ab. 1995 zog es ihn in die ›Ottostadt‹ und kurz darauf haupt beruflich in die Politik. Seit 2004 sitzt er im Magdeburger Stadtrat und vertritt seit 2009 den Wahlkreis 69 Magdeburg im Bundestag, wo er auch innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion ist. Zudem ist er Vorsitzender der SPD Sachsen-­Anhalt. Am 10. Januar 2019 gab er bekannt, sein Bundestagsmandat abgeben zu wollen. Bereits wenige Tage zuvor kündigte er an, nicht noch einmal für die Wahl zum Landesvorsitzenden zur Verfügung zu stehen. Die Magdeburger zeichnen sich für ihn dadurch aus, dass sie sehr direkt und offen sind und ohne Umschweife zum Punkt kommen. Auch dann, wenn ihnen etwas nicht passt.

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