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Wilhelm Polte

Zuckerbäcker wurde er nicht, dafür aber der erste Oberbürgermeister Magdeburgs nach der Wende. Heute ist er Ehrenbürger der Stadt und engagiert sich immer noch rund um die Uhr. Als DDR-Bürger tritt er 1960 in Westberlin heimlich in die SPD ein, im Studium riskiert er die Exmatrikulation und im Herbst 1989 gründet er mit anderen eine Partei. Auf Auszeichnungen gibt er nicht viel, dabei ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes. Wir trafen das Urgestein der Magdeburger Politik Dr. Wilhelm ›Willi‹ Polte.

Interview und Fotos: Kevin Gehring und Lara-Sophie Pohling

Sie sind in Niegripp geboren. Können Sie sich noch erinnern, wann Sie das erste Mal in Magdeburg waren?
Ja, das war noch während des Krieges. Dem Onkel meiner Mutter gehörte in der Nähe des Neustädter Bahnhofs ein Eckhaus. Aus deren Wohnung in der dritten Etage konnte ich als kleiner Junge vom Lande aus einer großen Höhe auf die Bahnlinie schauen. Für ein Kind vom Dorf war das schon was Besonderes. Das müsste so 1943 oder 1944 gewesen sein und hat sich mir besonders eingeprägt.

Nach der Grundschule begannen Sie eine Lehre in der Firma Ihres Vaters. Warum?
Eigentlich sollte ich zur Oberschule gehen, aber in Folge der Selbstständigkeit meines Vaters und dem politisch vorgegeben Ziel der › Brechung des bürgerlichen Bildungsmonopols‹ wurde mir dieser Weg versperrt. Meine Schwester wurde schon 1948 ein Opfer davon und ging in den Westen. In der Grundschule gab es dann Empfehlungen für die Berufswahl und Lehrstellen wurden vermittelt. Mir wurde angeboten, im Mans felder Kupferschieferbergbau Knappe zu werden. ›Unter Tage‹ wollte ich aber auf keinen Fall und so blieb mir nur die Schlosserlehre im Betrieb meines Vaters.

Inter.Vista, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Inter.Vista, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Wie kamen Sie dann doch zu Ihrem Studienplatz?
Mit der Schlosserausbildung wollte ich mich nicht begnügen und so besuchte ich in der Volkshochschule Burg dreimal wöchentlich einen Kurs zur Vorbereitung auf die Fachschule. Nach einer Aufnahmeprüfung in der damaligen Fachschule für Maschinenbau in Leipzig konnte ich dann ab September 1955 ein Studium beginnen. Rückblickend hatte dieser Lebensweg auch den Vorteil, dass ich bereits mit 20  Jahren Jungingenieur war. Dem schloss sich eine zweijährige Arbeit in einem Leipziger Betrieb an. 

Ab 1960 gingen Sie dann fünf Jahre zum Studium an die TU  Dresden. Wie kam es dazu?
Der Ingenieurabschluss wurde als technisches Abitur akzeptiert und so delegierte mich der Leipziger Betrieb zum Studium nach Dresden.

Dann kam am 13. August 1961 der Mauerbau.
Als ich nach der Sommerpause im September 1961 wieder nach Dresden kam, wurde in unserem Fachbereich eine Versammlung zur Information über das Geschehen rund um den Mauerbau durchgeführt. In diesem Zusammenhang wurden wir aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, jederzeit bereit zu sein, die DDR mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Diese Unterschrift verweigerte ich, was zu meiner Suspendierung vom Studium führte. Mein Ärger über den Mauerbau war groß, denn mein Wunsch in einem vereinten Deutschland zu leben, sah ich dadurch für Jahrzehnte als nicht realisierbar an. Ich war schon in jungen Jahren ein politisch interessierter Mann.

»Für mich ist ein Netzwerk aus zwischenmenschlichen Beziehungen wichtig für ein gelungenes Leben.«

Wie ging es weiter?
Ich hatte meine Bücher und sonstigen Sachen schon paketweise nach Hause geschickt, blieb aber vorerst noch in meinem gemieteten Zimmer. Circa 14 Tage später kam ein Kommilitone meiner Seminargruppe zu mir und teilte mir mit, dass ich zum Prorektor kommen solle. Der machte mir dann im Gespräch klar, welch leichtfertige Entscheidung ich doch für meinen weiteren Werdegang gefällt hätte. Er redete eine Stunde lang auf mich ein, aber ich ließ mich nicht umstimmen. Schließlich sagte er zum Schluss des Gespräches, dass ich wieder an den Lehrveranstaltungen teilnehmen dürfe. Den Grund für diesen Sinneswandel erfuhr ich erst später. Von den damals circa 15.000 Studenten in Dresden sollen über 700 die geforderte Erklärung nicht unterschrieben haben. Hätte man alle exmatrikuliert, wären die Planzahlen für die Bereitstellung von Diplom-Ingenieuren für die Volkswirtschaft nicht erfüllbar gewesen.

Bereits im August 1960 waren Sie in Westberlin der SPD beigetreten. Wie kam es dazu?
Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED wurde in Westberlin ein Ostbüro als Anlaufpunkt für die ehemaligen SPD-Mitglieder der DDR eingerichtet. Dort ging ich im August 1960 hin und stellte den Antrag auf Mitgliedschaft bei der SPD. Von der Politik der Adenauer-Regierung war ich enttäuscht. Sie hat meiner Meinung nach nichts für die Wiedervereinigung getan, stattdessen die Spaltung durch die NATO-Mitgliedschaft immer weiter vertieft. Die SPD veröffentlichte 1958 den Plan zur deutschen Einheit und musste sich dafür von Franz-Josef Strauß Hohn und Spott anhören: Den Plan solle man der SPD um die Ohren hauen. In dieser Zeit wollte ich mich politisch klar positionieren. Hinzu kam, dass Willi Brandt als Regierender Bürgermeister von Westberlin immer die Nähe zum Osten hatte und mir die Zuversicht vermittelte, dass er den Osten besser versteht als der alte Herr am Rhein. (Konrad Adenauer, Anm. d. Red.)

Inter.Vista, Wilhelm Polte, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Inter.Vista, Wilhelm Polte, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Leben konnten Sie ihre politischen Ambitionen aber nicht?
In der Tat! Meine naive Vorstellung war, nach abgeschlossenem Studium nach Ostberlin zu gehen und dort nebenbei Parteiarbeit für die SPD zu leisten, da in Ostberlin in Folge des Vier-Mächte-Status die SPD existieren durfte. In Folge des Mauerbaus musste sie dann ihre Arbeit dort einstellen, so dass sich diese Vorstellung erledigte. 

Haben Sie anderen erzählt, dass Sie in der SPD waren?
Natürlich nicht, denn dann wäre ich außerordentlich gefährdet gewesen. Zu DDR-Zeiten wurde das Ostbüro der SPD als Nachrichtenzentrale des CIA betitelt. Mit Sicherheit wäre ich hinter Gittern gelandet. Ich habe es deshalb nicht mal meiner Frau erzählt. Nach der Wende habe ich erst mal recherchieren lassen, ob eine Dokumentation über meinen Besuch im Ostbüro vorlag. Ich hatte schließlich seitdem nichts mehr davon gehört. Die Akten wurden um gehend nach Bonn in das Archiv der sozialen Demokratie verbracht, für den Fall, dass die Sowjets Westberlin überrollen. Dort fand sich tat sächlich eine Dokumentation über meinen Antrag, der dann als Grundlage für die Verleihung des goldenen Parteiabzeichens für 50 Jahre SPD­-Mitgliedschaft im Jahr 2011 diente.

Wie ging es weiter, nachdem sich der Plan mit Ostberlin erledigt hatte?
Nach Ende des Studiums ging ich 1965 wieder nach Leipzig zurück in den Betrieb, der mich zum Studium delegiert hatte. 1968 zog ich nach Magdeburg. Ich war immer sehr heimat verbunden und wollte wieder in die Nähe meiner Eltern und Freunde. Für mich ist ein Netzwerk aus zwischenmenschlichen Beziehungen wichtig für ein gelungenes Leben. 

Und was haben Sie hier gemacht?
Ab November 1968 war ich zehn Jahre im Wissenschaftlich Technischen Zentrum für Getriebe und Kupplungen in Magdeburg tätig. Diese Zentren begleiteten die Arbeit der Betriebe auf wissenschaftliche Weise. Wir unterbreiteten Vorschläge zur Rationalisierung von Produktionsabläufen und bearbeiteten diesbezügliche Forschungsfragen. Das gefiel mir. 

Warum dann der Wechsel an die Uni?
1978 fragte die Universität an, ob ich Interesse an Lehre und Forschung hätte. Die Entscheidung über einen möglichen Wechsel habe ich mir nicht leicht gemacht, denn in meinem bisherigen Betrieb herrschte eine sehr gute Arbeitsatmosphäre. Andererseits reizte mich die neue berufliche Herausforderung. Im Rück blick habe ich meinen Wechsel an die Universität nicht bereut. Dabei bereitete mir die Arbeit mit jungen Menschen sehr viel Freude und gab mir immer wieder neue Anregungen.

Was wollten Sie werden, als Sie klein waren?
Zuckerbäcker. Der Wunsch nach süßen Leckereien konnte selten durch die Rationierung von Lebensmitteln mittels der Lebensmittelmarken erfüllt werden. So brauchte die Mutter den monatlich zugeteilten Zucker für den Haushalt und nicht zum Kauf von beispielsweise Bonbons. Daher rührte der Wunsch, Zuckerbäcker zu werden.

Welche Auswirkungen hat Ihr politisches Leben auf die Erziehung Ihrer Kinder?
Wir versuchten nie, sie in eine Richtung zu drängen. Wir haben immer auf Vorbildwirkung gesetzt, um ihnen ein Beispiel für die Lebensgestaltung zu geben. Wir machten ihnen nur wenige Vorschriften und räumten ihnen selbstverantwortete Freiräume ein. Heute können wir uns über unsere Kinder und ihre Familien sehr freuen.

»Nur eine bauende und sich ständig selbst erneuernde Stadt hat Zukunft.«

Wie kam es zu ihrem Auftritt bei der Lindenstraße?
Der Filmproduzent der Lindenstraße Hans Wilhelm Geißendörfer wollte mit einer Werbeaktion mehr Zuschauer in den neuen Bundesländern generieren. In diesem Zusammenhang kam er mit Schauspielern nach Magdeburg. Aus dieser Bekanntschaft heraus ergab sich dann für mich die Möglichkeit für die Mitwirkung in einer Szene, um werblich für die bevorstehende Bundesgartenschau 1999 hinzuweisen. 

Sie sind schon länger außer Dienst, fühlen sich aber nicht als Oberbürgermeister a. D.
Wenn man als ehemaliger Bürgermeister in der Gemeinde wohnen bleibt, nimmt man automatisch intensiv am Leben der Kommune teil, man ist quasi integraler Bestandteil. 

Inter.Vista, Wilhelm Polte, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Inter.Vista, Wilhelm Polte, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Was veränderte sich für Sie, seitdem Sie nicht mehr im Amt sind?
Letztlich wird man als Bürgermeister für fast alles, was passiert oder nicht passiert, verantwortlich gemacht. Der Oberbürgermeister ist im Gegensatz zu einem Minister im Grunde genommen für die Bürger jederzeit erreichbar. Da gibt es dann unmittelbar Lob, aber auch viel mehr Kritik. Auch Gewalt wird angedroht und wurde vor allem in den Jahren ab 1990 gelegentlich auch gegen Sachen ausgeübt. Die angestauten Probleme und Unzulänglichkeiten aus der DDR-Zeit sollten sofort gelöst bzw. beseitigt werden, aber in einem demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen vollziehen sich notwendige Entscheidungen in längeren Prozessen. Brecht nennt das die ›Mühen der Ebene‹. 

Was würden Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben?
Nur eine bauende und sich ständig selbst erneuernde Stadt hat Zukunft. Dafür muss man Sorge tragen und darf sich nicht durch egoistische Partikularinteressen davon abhalten lassen.

Wie war das Verhältnis von Dozierenden und Studierenden? Haben Sie auch nach den Lehrveranstaltungen was mit den Studis unternommen?
So weit ging es nicht. Aber ich hatte eine besondere Marotte. Für Seminare ließ ich mir immer einen Sitzspiegel anfertigen und versuchte, mir die Namen einzuprägen. Spätestens bei der dritten Lehrveranstaltung kannte ich jeden Studenten mit seinem Namen. Ich wollte die Studierenden nicht nur als Nummer oder freundliches Gesicht sehen, sondern als Fräulein Meier oder Herr Schulze.

In dieser Position waren Sie dann bis zur Wende tätig. Was war für Sie das Schlüsselerlebnis in dem Jahr, als die Mauer fiel?
1968 war der Prager Frühling. Da hatten wir wieder neue Hoffnung. Man hat mitgefiebert, wie sich die Dinge entwickeln und wir hofften, dass sich die Liberalisierung auch auf uns in der DDR auswirkt. Die Hoffnungen wurden von Panzern zermalmt, wie so oft in der Geschichte. Am 17. Juni 1953 kamen die Panzer in Magdeburg, dann beendeten sie beim Ungarn-Aufstand 1956 das Aufbegehren. 1970 war in Polen der Danziger Aufstand mit vielen Toten, wo ebenfalls die Armee alles niederschlug. Trotzdem waren wir so verwegen, 1989 wieder auf eine Liberalisierung und einen gesellschaftlichen Erneuerungsprozess zu hoffen. Zwar waren es nur relativ wenige Menschen, die an den Gebeten für gesellschaftliche Erneuerung im Dom und an den nachfolgenden Demonstrationen teilnahmen, aber das Risiko war nach den bisherigen geschichtlichen Erfahrungen den meisten sicher bewusst.

Nun haben Sie so lange auf den Mauerfall warten müssen, doch am 9. November 1989 hatten Sie was anderes Wichtiges zu tun?
Genau. Wir wollten für die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP, Anm. d. Red.) eine eigene Untergliederung in Magdeburg grün den. Circa 24 Personen saßen an diesem Abend in unserem Hauskeller zusammen. Es gab noch viele organisatorische und inhaltliche Fragen für die geplante Gründungsversammlung. Wir hatten keine Infrastruktur, keine Räume, keine Büros, kein Papier, keine Kopiergeräte. Vor allem die inhaltlichen Fragen, zur Grundsatzrede und mögliche Diskussionsschwerpunkte mussten vorbedacht werden. Gegen 21.30 Uhr kam meine Frau herunter und informierte uns: In Berlin ist die Mauer offen! Das nahmen wir zwar erfreut zur Kenntnis, haben dann aber konzentriert weitergemacht. Als andere schon im Auto Richtung Helmstedt (Grenzübergang, Anm. d. Red.) fuhren, schien uns die Frage der Parteigründung in diesem Moment viel wichtiger. 

Wie ging es mit der Parteigründung nach dem Mauerfall weiter?
Nachdem der Termin für die zu haltende Grundsatzrede mit einem der Gründerväter, Markus Meckel, getroffen war, wurde die technisch-organisatorische Umsetzung der Veranstaltung vorbereitet. So konnte die Frage eines geeigneten Raumes durch die Anmietung des Gemeindesaals der evangelischen Altstadtgemeinde gelöst werden. Ich kannte den zuständigen Pfarrer, denn wir sangen gemeinsam im Chor. Die Gründungsversammlung konnte dann am 17. November 1989 störungsfrei vollzogen werden. Von den anwesenden Teilnehmern haben unmittelbar anschließend 86 Frauen und Männer die Gründungsurkunde unterschrieben. Diese Urkunde hängt heute noch im SPD-Parteibüro.

Nach der Wende wurden Sie erster Magdeburger Oberbürgermeister. Haben Sie sich jemals erträumt, dieses Amt zu bekleiden?
Schon in den fünfziger Jahren habe ich immer ›rumgesponnen‹. Ich wollte Bundeskanzler werden, um die Einheit zu schaffen und ich wusste auch wie. Ich wollte die Gesamtdeutsche Volkspartei, die es schon im Westen gab, auch im Osten gründen, und wenn beide jeweils die Mehrheit errungen hätten, wären wir ohne Probleme wieder zusammengekommen. So stellt sich das wohl der kleine Moritz vor. (lacht) Ein Amt zu bekleiden war nach der Wende nicht das vordergründige Ziel, sondern ich wollte helfen, die realpolitischen Verhältnisse grundlegend zu verändern.

Warum wurden Sie für die Wahl des Oberbürgermeisters aufgestellt?
Wir gingen mit unserer neuen Partei mit sehr dünner Personaldecke an den Start. Ich ließ mich für die ersten und einzigen freien Volkskammerwahlen 1990 aufstellen und wurde am 18. März gewählt. Bereits ein Jahr später fanden am 6. Mai 1991 schon die ersten freien Kommunalwahlen statt. Da drängelte sich niemand danach, die Spitzenkandidatur zu übernehmen. Wir waren in unserer Partei zwar wenige, wollten aber trotzdem einen Spitzenmann nominieren. Da ich der Vorsitzende in Personalunion für den Bezirk und die Stadt Magdeburg war, lief die Kandidatur auf mich zu. Meine Chancen waren allerdings nicht sehr groß, denn bei den Volkskammerwahlen im Jahr zuvor dominierte landesweit die CDU. Dass schließlich die SPD in Magdeburg die relative Mehrheit bei den Wahlen gewann, war für den Bereich der Oberbürgermeister und Landräte ein Alleinstellungsmerkmal. 

Sie setzten sich auch sofort dafür ein, dass Magdeburg Landeshauptstadt wird.
Ja, unbedingt! (lacht) Ich wollte nur, dass uns geschichtlich Recht widerfährt. Im Zusammenhang mit dem Wiener Kongress 1815 wurde die preußische Provinz Sachsen gegründet und die Provinzhauptstadt war Magdeburg. Als 1946 das Land Sachsen-Anhalt gebildet wurde, war Magdeburg leider so zerstört, dass es diese Funktion nicht wahrnehmen konnte. Als nach der Wende das Bundesland Sachsen-Anhalt gegründet wurde, wollte ich das Magdeburg die Hauptstadtfunktion wieder übernimmt. Ich machte Vorschläge für die Sitze aller möglichen Ministerien und die Mehrheit des Landtags stimmte für Magdeburg. Natürlich muss man solche Erfolge auch durch nicht öffentliche Aktivitäten organisieren und der Erfolg ist für uns die Bestätigung.

Was war nach der Wende der wichtigste Punkt, den Sie angegangen sind?
Durch die nachhaltige Kriegszerstörung Magdeburgs und den Weggang vieler Menschen in Richtung Westen hatten wir innerhalb kürzester Zeit 25.000 Anmeldungen auf vermögensrechtliche Ansprüche aus der ganzen Welt. Bei uns galten natürlich die Regeln des Grundgesetzes und da wird nichts so sehr geschützt wie das Eigentum. Die Eigentumsfragen mussten Fläche für Fläche geklärt werden. Nach dem Wiederaufbaugesetz baute man zu DDR-Zeiten vielfach auf Grundstücken, ohne die Grundstücksfrage vorher eindeutig geklärt zu haben. Zudem wurden die Grundbücher ab 1960 eingelagert, teilweise die Eintragungen geschwärzt. Die Berechtigung angemeldeter Ansprüche zu klären, war eine Sisyphusarbeit. Zudem hatte der Einigungsvertrag 1990 festgelegt, dass berechtigte Altansprüche natural restituiert werden sollten. Dies alles erwies sich für unsere Stadt als großes Hindernis für schnelle Investitionen, vor allem im städtischen Bereich. Solange die Frage nicht geklärt war, wem das Gelände gehörte, wurde nichts gebaut. Allein auf dem Gelände des heutigen Allee Centers und des Ulrichshauses gab es 265 vermögensrechtliche Ansprüche. Erst zwei Jahre später hat der Bundestag durch die Änderung des Einigungsvertrages in dieser Frage einen Weg für nachhaltige Investitionen geschaffen.

Inter.Vista, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Inter.Vista, Foto: Lara-Sophie Pohling / Kevin Gehring

Nach ihrer Amtszeit haben Sie das Bundesverdienstkreuz erster Klasse erhalten. Legen Sie viel Wert auf Titel?
Natürlich freue ich mich über diese Form der Anerkennung. Dagegen werde ich keinen Widerspruch einlegen, weil ich mich als Oberbürgermeister ab 1990 ungewöhnlichen Herausforderungen gegenübersah. Ich bin im Rückblick stolz, dass wir insgesamt unsere Pflicht erfüllt haben. Das sprach ich auch bei meiner ersten Rede im Rathaus an: Wir müssen uns schinden und dürfen uns die Finger nicht schmutzig machen! Ich bin froh, dass das offenbar gelungen ist.

»Die Liebe zur Stadt muss aus jedem Knopfloch sprießen.« Woher kommt Ihre innige Beziehung zu Magdeburg?
Es gab in der 1.200-jährigen Geschichte unserer Stadt noch keine Phase, in der wir so viele Neuerungen vollziehen konnten. Das verbindet und macht stolz. Man muss aber auch auf der Höhe der Zeit bleiben. Das alles ist so motivierend und begeisternd, ich beschäftige mich jeden Tag mit der Stadt. So eine Lebensqualität wie heute hatten die Deutschen in der Geschichte noch nie. Dessen muss man sich bewusst werden. Freiheit, Möglichkeiten der Entwicklung und die Welt zu bereisen. Frühere Generationen haben viel leisten müssen. Die heutige Generation steht auch auf den Schultern der Altvorderen. Deswegen sollten sich auch junge Leute hier fragen, welchen Anteil Sie selbst leisten können, dass es so bleibt oder vielleicht noch besser wird. 

Lutz Trümper sagte im Inter.Vista-­Interview, Sie seien für die Zeit nach der Wende genau der richtige Oberbürgermeister gewesen, weil Sie die Leute mitgerissen haben. Sind Sie einfach ein bürgernaher Typ?
Der Begegnung mit Menschen bin ich nie aus dem Weg gegangen, ob sie mir wohlgesonnen waren oder mir kritisch gegenüberstanden. Ich ärgerte mich nur manchmal, wenn wir zur Bürgerversammlung einluden und niemand erschien. Dafür konnte ich in den Leserbriefen der Volksstimme immer zur Kenntnis nehmen, was wir alles falsch machen. Oft bestand das Interesse an der weiteren Entwicklung der Stadt nur, wenn es persönliche Interessen betraf. 

Ihr besonderes Interesse galt auch immer der Innenstadtentwicklung.
In der Tat. Durch die Zerstörung unserer Stadt im Zweiten Weltkrieg ist ihr städtebauliches Gesicht nachhaltig verändert worden. Wenn sie ein Bild Magdeburgs aus dem Mittelalter nehmen, dann sehen sie eine Stadt der Türme. Wunderschön! Die Kirchen sind Dokumente aus der Geschichte. Zu DDR-Zeiten hieß es offiziell ›Magdeburg, Stadt des Schwermaschinenbaus‹. Dreck, Lärm, Staub? Wer sollte denn als Tourist hierherkommen? Eine Firma aus München bot an, uns ein neues Image zu verpassen. Denen fiel aber nichts anderes ein als ›Magdeburg – Domstadt an der Elbe‹. Ich sagte sofort: Das reicht nicht. Wir haben in Sachsen-Anhalt sieben Dome und es gibt auch genug andere Städte, die an der Elbe liegen. Deswegen kam unter anderem die Idee mit dem Hundertwasserhaus, wir brauchten etwas ›Verrücktes‹. Wollen wir auch ein Stückchen vom Tourismus- Kuchen abhaben, dann müssen die Leute spüren, dass die Magdeburger stolz auf ihre Stadt sind.

»Man kann hier alles machen, nur eins fehlt: Skiabfahrtslauf.«

Sie sind Ehrenbürger der Stadt Magdeburg. Wie nutzen Sie die Vergünstigungen, die damit verbunden sind?
Mit den Enkeln bin ich gelegentlich im Zoo und im Kulturhistorischen Museum. Ich werde auch zu vielen Veranstaltungen eingeladen, so dass ich manchmal gar nicht weiß, wo ich zuerst hingehen soll. Manche sagen mir sogar eine nasse Wohnung nach, weil ich ständig außer Haus bin. (lacht) Es macht einfach Spaß zu sehen, wie diese Stadt sich nach 1990 entwickelte und welch ein geistig kulturelles Leben hier entstand. Man kann hier alles machen, nur eins fehlt: Skiabfahrtslauf.

Was macht den typischen Magdeburger aus?
Den Magdeburger schlechthin gibt es für mich nicht. Da gibt es den Magdeburger, der durchaus stolz auf seine Stadt ist, der eine gute Nachbarschaft pflegt und hilfsbereit ist, der sich ehrenamtlich vielfältig engagiert, der seine sich ständig erneuernde Stadt gern seinen Gästen und Besuchern zeigt. Da gibt es den Magdeburger, der sich mit einer positiven Bewertung des Erneuerungsprozesses, des geistig kulturellen Lebens und des Ringens um eine zukunftsgerechte Stadt eher zurückhält. Dafür weiß er aber genau, was die Verantwortlichen alles falsch machen und das wird mit einem deutlich vorwurfsvollen Ton der Öffentlichkeit mitgeteilt.

November 2018
Interview aus INTER.VISTA 7

Vista.Schon?

Er ist 1938 in Niegripp geboren, wo er sich nach seiner Amtszeit als Oberbürgermeister Magdeburgs (1990–2001) neben seiner Tätigkeit im Landtag (2002–2006) auch als Ortsbürgermeister (2001–2009) engagierte. Heute genießt er mit seiner Frau die Vorzüge des Lebens in der Stadt. Gemeinsam haben sie einen Sohn und eine Tochter. In den Nachwendejahren war Dr. Wilhelm Polte ein wichtiger Wegbereiter für den Wiederaufbau Magde burgs. Um sich fit zu halten, ist er einmal die Woche mit seiner Nordic­ Walking-Gruppe unterwegs. Außerdem ist er in so vielen Vereinen aktiv, dass er selbst manchmal den Überblick verliert. Auch einen Lieblingsort hat er nicht, dafür gibt es zu viele schöne Flecken in Magdeburg.

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