Posted by on

Christoph Volkmar

Geschichte ist langweilig und verstaubt? Nicht, wenn man PD Dr. Christoph Volkmar fragt.Seit einem knappen Jahr leitet er das Stadtarchiv Magdeburg und spricht mit Inter.Vista über historische Start-Up-Unternehmer, wen er gern mal treffen würdeund warum er den schönsten Beruf hat. Außerdem verrät er uns, woher sein Faible für Straßenbahnen rührt.

Interview und Fotos: Patricia Rocha Dias und Simone Osterwald

Überlebt man im Archiv mit einer Stauballergie?
Es gibt Staub im Archiv, aber wir versuchen dem beizukommen. Akten haben manchmal den Staub der Jahrhunderte an sich, aber für die langfristige Aufbewahrung werden sie gereinigt und in Kartonsverpackt.

Wie reagieren die Menschen, wenn Sie sagen, Sie seien Stadtarchivar?
Ich bekomme interessierte Rückfragen,aber das ist normal, denn das Archiv ist ein kleiner Bereich, was Exotisches. Wenn man erklärt, welche vielfältigen Bezüge zur heutigen und lebendigen Stadtkultur existieren, reagieren sie umso interessierter. Auch an der Kulturhauptstadt-Bewerbung für 2025 ist das Stadtarchiv beteiligt. Außerdem kann der Stadtarchivar sagen: ›Wenn Sie mal was Interessantes gemacht haben, dann landen Sie im Archiv‹.

Wie viele Medien und Materialien hat das Stadtarchiv?
In Regalmetern gemessen verwahren wir zirka 7,5 Kilometer Archivgut. Da viele Dokumente im Dreißigjährigen Krieg verbrannten, haben wir aus den ersten 800 Jahren der Magdeburger Stadtgeschichte aber kaum Unterlagen. Daher versuchen wir Spuren der Magdeburger Geschichte systematisch in anderen Archiven zu entdecken, zum Beispiel in Braunschweig,Wien oder Rom. Magdeburg war im Mittelalter und in der frühen neuzeit die bedeutendste Stadt im Osten Deutschlands. Fünfmal größer als Berlin. Ich sage immer, wenn man wenig Quellen hat, brauchtman zumindest einen guten Historiker.

Welche historischen Befunde werden aufbewahrt?
Zu den historischen Beständen zählen unter anderem Unterlagen der Bauver waltung von Magdeburg. Wir verwalten auch das aktuelle Zwischenarchivgut der Landeshauptstadt. Akten, die nicht mehr benötigt werden, müssen aus Rechts gründen hier solange liegen, bis Fristen abgelaufen sind.

Ein guter Archivar muss immer auch den Finger am Puls der Zeit haben.

Fliegen dann auch mal interessante Dinge raus?
Auf keinen Fall. (lacht) Meine Aufgabe als Archivar ist es, das Material aufzubewahren, das uns in hundert Jahren noch viel über das heutige Magdeburg erzählen kann. Alles andere wird kassiert, das heißt datenschutzkonform vernichtet.Wir streben an, ein Prozent aufzuheben und 99 Prozent wegzuwerfen.

Zurzeit sind Sie dabei Archivgut zu digitalisieren. Wie sieht das denn aus?
Wir stellen heute viel analoges Archivgut in digitaler Form bereit, damit man es besser benutzen kann. Dann bleiben Originale gut geschützt im Magazin. Wir arbeiten zum Beispiel mit Ancestry zusammen. das ist eine Firma, die weltweit geburten-, heirats- und Sterbebücher online für die Familienforschung recherchierbar macht. Wir gehen aber auch mit ›digital born data‹ um, also Material, das originär digital ist. Das Rechtsamt der Stadt arbeitet nur noch mit digitalen Unterlagen. Das digitale Original muss in einem elektronischen Archiv auf Dauer sicher aufbewahrt werden.

Inter.Vista, Christoph Volkmar, Foto: Patricia Rocha Dias, Simone Osterwald

Inter.Vista, Christoph Volkmar, Foto: Patricia Rocha Dias, Simone Osterwald

Stichwort Familienforschung. Haben Sie schon in eigener Sache recherchiert?
Als ich neun war schrieb ich mir bei meiner Oma einen Stammbaum ab. Der ging leider auf einen Ariernachweis aus den dreißiger Jahren zurück. Aber da war die Familiengeschichte bis in die Zeit des Siebenjährigen Krieges aufgezeichnet. Auch mit größeren Nachforschungen würde man wohl nicht weiter kommen.

Gibt es Kooperationen mit anderen Archiven?
Als Reaktion auf die Katastrophe in Köln und den Brand der Anna-Amalia existiert ein Notfallverbund der Magdeburger Archive. Dazu gehören unter anderem das Landesarchiv Sachsen-Anhalt, das Archiv des Landtages, die beiden Kirchenarchive und das Archiv der Stasiunterlagenbehörde.

Was ist Ihnen bei der Arbeit wichtig?
Dass bekannter wird, dass das Stadt­archiv ein Ort ist, den jeder besuchen kann. Ahnenforschung ist ein Thema, das wirklich jeden ins Archiv bringt. Aber auch Heimatgeschichte oder die Geschichte der Straßenbahn in Magde­burg und anderes. Das Archiv ist eine demokratische Einrichtung. Man braucht keinen Doktortitel, um hier recherchieren zu dürfen.

Wie viele Leute nutzen denn das Stadtarchiv?
Wir haben im Jahr mehrere tausend Besu­cher. Oft sind es Multiplikatoren, die Bü­cher, Reportagen oder Filme produzieren. Dazu kommt eine vierstellige Zahl schriftlicher Anfragen etwa von Gerichten, von Journalisten, aber auch Privatpersonen.

Inter.Vista, Christoph Volkmar, Foto: Patricia Rocha Dias, Simone Osterwald

Inter.Vista, Christoph Volkmar, Foto: Patricia Rocha Dias, Simone Osterwald

Gibt es auch Geheimes im Archiv? Top-Secret?
Daten über die Geburt einer Person dürfen erst 110 Jahre nach der Geburt online zugänglich gemacht werden. Wenn das Todesdatum der Person bekannt ist, dann zehn Jahre nach dem Tod der Person. Im Onlinebereich muss man die Schutzgrenzen höher ziehen, denn diese Daten sind für alle verfügbar. Wenn dagegen Forscher ins Archiv kommen, dann kön­nen wir konkreter Akten freigeben, und Auflagen wie Anonymisierung vorgeben.

Man braucht keinen Doktortitel, um hier recherchieren zu dürfen.

Haben sie in Ihrer Archivarbeit auch mal etwas Überraschendes herausgefunden?
Letztens hielt ich einen Vortrag überAugust Wilhelm Franke, der hier vor 200 Jahren Bürgermeister war. Interessant ist, dass er auch ein Eisenbahnunternehmen leitete. Die Stadt Magdeburg erwarb Aktien und verkaufte am Ende sogar mit Gewinn. Also ein Bürgermeister, der auch ein Start­up­unternehmer war.

Ein Start-up-Unternehmer muss einen guten Geschäftssinn haben. Welche Eigenschaften benötigt ein Stadtarchivar?
Ein guter Archivar muss immer auch den Finger am Puls der Zeit haben. Wenn man die heutige Stadtgesellschaft nicht versteht, kann man auch nicht dafür sorgen, dass das erhalten bleibt, was zukünftig mal interessant wird. Außerdem sollte er nie die Neugier auf Geschichte verlieren. Ein Archivar muss ein guter Historiker sein. Ich habe Geschichte studiert, promoviert und bin bis heute aktives Mitglied der Historischen Kommission von Sachsen-Anhalt. Kürzlich habe ich auch zu einem Geschichtsthema habilitiert.

Worüber?
Landadel und Reformation im Mittel­elberaum. Wenn Sie sich fragen, wie die Reformation gesellschaftlich durch­ gesetzt wurde, dann ist immer von den Fürsten und Städten die Rede und manchmal von den Bauern. Aber den landsässigen Adel vergisst man in dieser Darstellung immer. Fünf Jahre habe ich neben meiner Tätigkeit im Landesarchiv in Wernigerode daran gearbeitet. Dort gibt es die größte Sammlung von Adelsarchiven in ganz Deutschland.

Was ist Ihr persönliches Talent?
Ich bin gut darin, Dingen eine Struktur zu verleihen oder Strukturen zu entdecken, die in den Dingen liegen.

Beherrschen Sie auch tote Sprachen?
Ich habe eine Grundausbildung in Latein. Das hilft, wenn man mittelalterliche Urkunden lesen will. Allerdings ist das mittelalterliche Latein gar nicht so schwer zu lesen, weil die Leute damals in der Regel Deutsch gedacht und Latein geschrieben haben. Damit unterscheiden sich vor allem die Syntax und Grammatik deutlich vom klassischen Latein. Das macht es verständlicher.

Ich muss nicht jeden Tag den Rest der Welt davon überzeugen, dass ich den schönsten Beruf habe.

Stört es Sie, dass Ihre Arbeit Sie im ›stillen Kämmerlein‹ sitzen lässt?
Mich stört das überhaupt nicht. Ich muss nicht jeden Tag den Rest der Welt davon überzeugen, dass ich den schönsten Beruf habe.(lacht)

Als Stadtarchivar blickt man ständig in die Vergangenheit. Was kann man daraus für die Zukunft schließen?
Die Vergangenheit ist im modernen Sinn eine kulturelle Ressource. Wenn man da rum nicht weiß, kann man keine Zukunft bauen. Die Leute leben viel lieber in einer Stadt, die um ihre Vergangenheit weiß. Auch kleine Details sind wichtig. Wir sind hier zum Beispiel in der Mittagsstraße. In der frühen Neuzeit bezeichnete man die Himmelsrichtungen mit Morgen, Mittag, Abend und Mitternacht. Daher der Straßenname. Wenn ich das weiß, finde ich mich besser zurecht, nicht nur in der Neuen Neustadt.

Welche Magdeburger Persönlichkeit aus der Vergangenheit hätten Sie gern mal getroffen?
Otto von Guericke. Um herauszufinden, ob er mit seiner Seele mehr Wissenschaftler oder Politiker war. Nach dem Dreißigjährigen Krieg war die Stadt zu 95 Pro­zent zerstört, zwei Drittel der Bewohner waren ums Leben gekommen. er hat sich wie kein Zweiter bemüht, Magdeburg wieder eine Zukunft zu geben. Ich bin überrascht, dass er Zeit für solch absurde Dinge wie den Halbkugelversuch hatte. Denn in den Augen seiner Zeitgenossen hatte er eigentlich Wichtigeres zu tun.
 
War Geschichte Ihr Lieblingsfach in der Schule?
Schon. Allerdings mochte ich nicht die Art, wie Geschichte in der DDR vermittelt wurde; nur als eine Abfolge von Klassen­kämpfen und mit dem Wissen darum, wie die Geschichte am Ende ausgehen musste. Ich fand es spannender Geschichte als einen ergebnisoffenen Prozess zu begreifen. Und, Geschichte lebt von Geschichten. So begreifen wir historische Zusammen hänge am besten.

Sie lesen viel. Was denn, eher Krimi oder Historienschinken?
Wenn überhaupt, dann Krimi. Aber ich gebe zu, dass ich privat kaum lese, weilich das den ganzen Tag schon mache.(lacht) Nach Feierabend gehe ich gern in den Garten oder spiele mit meinen Kindern. In den letzten Jahren habe ich wenig Belletristik gelesen.

Ist Ihre Familie auch so geschichts­interessiert wie Sie?
Nein, überhaupt nicht und das finde ich auch sehr gesund. Meine Frau ist Musi­kerin und unterrichtet Deutsch und Musik an einem Magdeburger Gymnasium. Meine Söhne sind sechs und zehn, die sind noch dabei, ihre Interessen zu erkunden.

Da wir gerade über Familie reden, was ist denn für Sie Heimat?
Heimat ist für mich Mitteldeutschland. Ich habe lange in Leipzig und in Halle gelebt, kurze Zeit in Dresden und jetzt in Magdeburg. Auch wenn es mal Ani­mositäten zwischen den Städten gibt, soziohistorisch sind es ähnliche Städte. Ich habe mich immer wohl gefühlt in diesen Städten. Vor allem, wenn vernünftige Straßenbahnen fahren.

Und wie ist es heute? In welchem Stadtteil wohnen Sie?
Stadtfeld West. Meine Bedingung war, dass es noch in Laufweite zur Straßenbahn liegt.

Und sind Sie hier glücklich?
Ja, ich bin ganz begeistert. Magdeburg ist eine interessante Stadt, vor allem, wenn
man das Spannungsfeld zwischen der manchmal nüchternen Gegenwart und
der reichen historischen Vergangenheit erkennt. Magdeburg hat keine Puppenstuben-Atmosphäre, sondern ist eine Stadt mit Weite, die mit neuem städtischen Leben zu füllen ist.

Sehen Sie Magdeburg als Kulturnestoder Kulturhauptstadt?
Die Bewerbung für 2025 ist eine große Chance für Magdeburg. Jemand meinte mal, das sei kein Preis, sondern ein Stipendium. Genau so kann man das ver- stehen. Man wird nicht
Kulturhauptstadt, weil man das ›Kultur-Mekka‹ für die reisenden aus aller Welt ist, sondern weil
man als europäische Stadt eine überzeugende Vision entwickelt, wie man sich in
der Zukunft kulturell stärker aufstellen kann.

Zu guter Letzt, welche drei Assoziationen oder Begriffe fallen Ihnen spontan zu Magdeburg ein?
Die Größe der Stadt, vor allem historisch gesehen. Die Weite in der Innenstadt, ebenfalls bemerkenswert. Und für die Zukunft ist es aus meiner Sicht der Gang zur Elbe. Die Elbe als Lebensraum in der Stadt.

Wir haben übrigens alle bisherigen Inter.Vista­ Ausgaben für Ihr Archiv mitgebracht.
Die werden wir wahrscheinlich eher als Bibliotheksgut aufnehmen, denn wir haben eine Bibliothek mit dem Schwerpunkt Magdeburger Stadtgeschichte von über 20.000 Medieneinheiten. Da ist es
genau richtig.

Juli 2017
Interview aus INTER.VISTA 4

Vista.Schon?
PD Dr. Christoph Volkmar ist mit 40 Jahren einer der jüngsten leitenden Stadtarchivare Deutsch lands und mit Leib und Seele in Mitteldeutschland verwurzelt. Er ist in Leipzig geboren und studierte Religionswissenschaft, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft in Leipzig, Tübingen und St. Andrews. Nach studien- und arbeitsbedingten Abstechern in die vatikanischen Archive in Rom, nach Marburg und Wernigerode ist er nun seit 2016 Leiter des Stadtarchivs Magdeburg.

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen