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Matthias Marggraf

Ob Bahnhof oder Sternbrücke, ob Sommer oder Winter. Matthias Marggraff alias »Prypjat Syndrome« schmückt als unkonventioneller Cellist und Straßenmusiker das Stadtbild Magdeburgs. Mit Inter.Vista unterhält er sich über seinen experimentellen Werdegang und verrät uns, was er beim täglichen Musizieren in Magdeburg erlebt.

Interview und Fotos: Diana Elschner

Was verbindet Deinen Künstlernamen »Prypjat Syndrome« mit der verlassenen ukrainischen Geisterstadt Prypjat nach dem Tschernobyl-Unglück?
Am meisten beschreibt der Begriff die Soundästhetik. Da ist viel Fläche. Viel Weite. In Prypjat leben nur noch wenige Menschen und die Natur erobert sich alles zurück. Dazu habe ich viele Gedanken und Bilder. Ein kritischer politischer Ansatz ist auch dabei, da sich solche Ereignisse wie in Tschernobyl wiederholen und die Menschen nichts dazu lernen. Die Message möchte ich den Leuten aber nicht aufdrücken. Jeder kann sich seinen Teil dazu denken. Meine Musik ist nicht per se happy hippo.

»Samstag zu Motörhead ins AMO und am Sonntag dann mit Hörsturz zum Klassikkonzert ins Kloster Unser Lieben Frauen.«

Wie würdest Du jemandem, der nicht hören kann, deine Musik beschreiben?
Ich würde sagen, meine Musik ist vor allem sphärisch, flächig, weit und tief. Eine Mischung aus dröhnendem Ambient und Punkrock. Ich versuche, den Sound, den ich im Kopf habe, so nah wie möglich durch mein Instrument zu realisieren.

Hast Du musikalische Vorbilder?
Die kennt bestimmt kein Mensch (schmunzelt). Ich versuche es mal: Steve Roach, Robert Rich, Alio Die. Drone Ambient, Naturaufnahmen, sogenannte Field Recordings, sphärischer Jazz und Ost-Punkrock gehören auch dazu.

Ist Deine Familie sehr musikalisch?
Zu Hause hat keiner wirklich ein Instrument gespielt. Es gab aber immer das komplette Kulturprogramm. Mein Vater war dafür die Stoßkraft. Samstag zu Motörhead ins AMO und am Sonntag dann mit Hörsturz zum Klassikkonzert ins Kloster Unser Lieben Frauen. So etwas gab es ständig.

Inter.Vista, Matthias Marggraff, Foto: Diana Elschner

Inter.Vista, Matthias Marggraff, Foto: Diana Elschner

Wie kamst Du dann zur Musik?
Dafür wurde ich Anfang der neunziger Jahre ›zwangsangemeldet‹. Damals musste man auf einen Platz in der Musikschule genauso lang warten, wie auf einen Trabant zu DDR-Zeiten. Nach mehreren Jahren wurde dann ein Platz für den Cellounterricht in der Musikschule frei. Eigentlich wurde ich für Geige angemeldet. Im Nachhinein bin ich froh, dass es so gekommen ist. Mit einem Cello hat man mehr zu schleppen, aber es klingt nicht so quietschig wie die Geigen.

Irgendwann hat sich dann Deine Musik von klassisch zu experimentell entwickelt?
Genau. Ich kaufte mir zunächst einen Tonabnehmer für viel Geld. Stück für Stück habe ich dann Sachen ausprobiert. Damals hatte ich noch ein geliehenes Cello von meiner Musiklehrerin. Da konnte ich nicht viel herumschrauben. Stattdessen habe ich das Instrument an einen Gitarren- und Bassverstärker angesteckt. Das klang mehr oderweniger gut. Mit den Jahren habe ich mir Effektgeräte gekauft und gebaut, mit denen ich noch heute spiele. Außerdem gründete ich mit ein paar Freunden eine Band und wir haben uns ausprobiert. Punkrock nach der Schule machte Spaß. Das war damals aber noch ein Hobby.

Wie wurde Musik zu Deinem Hauptberuf?
Das Leben ging gegen den Baum. Die Beziehung scheiterte. Kaufmann für Bürokommunikation hat mir nach der Beendigung meiner Ausbildung nicht mehr gefallen. Nichts ging vorwärts. Also musste ich die Initiative ergreifen. Ständig nur rumheulen geht auch nicht. Da habe ich mir mein Cello geschnappt und überall in Deutschland auf der Straße gespielt. Prompt gab es tolles Feedback. Mit simpler Technik begann ich, auf CD-Rohlinge meine Musik zu brennen und zu verkaufen. Das klang am Anfang technisch scheußlich, aber die Leute haben es gekauft. (lacht) Danach kamen die Visitenkarten, ich wurde gebucht und konnte dadurch meine Prozesse optimieren. Wichtig ist, sich nicht beirren zu lassen. Egal was dir jemand sagt, es gibt immer eine Lösung. Wenn ich einen bestimmten Sound haben wollte, baute ich mir meine Technik selbst. Ohne technische Vorkenntnisse. Ganz oder gar nicht.

Im Sommer sieht man Dich oft unter freiem Himmel Cello spielen. Was gefällt Dir daran?
Ich bin ein Sonnenfan. Ich kann Vitamin D tanken. Den Winter hasse ich wie die Pest. Ich kann in der Fläche flächige Musik machen. Ich werde bestrahlt und ich kann zurückstrahlen. Das soll jetzt aber nicht esoterisch klingen. Die Akustik klingt draußen auch anders. Die Temperatur, Wetterlage und Luftfeuchtigkeit verändern den Sound. Das bringt auch technische Schwierigkeiten mit sich. Wind ist zum Beispiel nicht so gut. Die Vielfalt und die Kunst, dass so viele Faktoren zusammenspielen, reizt mich.

Wie beeinflussen der Ort und die Menschen um Dich herum Deine Musik?
Brücken sind ein sehr angenehmer Ort zum spielen. Zum Beispiel die Sternbrücke. Da gibt es keinen städtischen Krach. Die Menschen dort sind anders als in der Innenstadt. Wesentlich entspannter. Die Leute gehen auch langsamer, wenn sie in Richtung Stadtpark gehen, als wenn sie hektisch zum Einkaufen laufen oder Termindruck haben.

Inter.Vista, Matthias Marggraff, Foto: Diana Elschner

Inter.Vista, Matthias Marggraff, Foto: Diana Elschner

Spielst Du lieber vor vielen oder wenigen Leuten?
Wenn sich ein Halbkreis von Zuhörern um mich bildet, entsteht eine andere Energie. Da gebe ich mir mehr Mühe. (schmunzelt) Es geht mehr ab, und meine Musik tendiert dann stärker zum Punkrock. Wenn ich mehr für mich spiele, wird es experimenteller. Je nach Laune ist es aber auch genau anders rum.

Spielst Du fertige Stücke oder improvisierst Du?
So ›freejazzig‹ wie am Anfang ist es nicht mehr. Irgendwann sind bestimmte Melodien im Kopf, auf die man gerne zurückgreift. Es gibt keinen festen Aufbau von einem Stück. Ich spiele eine Phrase an und dabei entwickelt sich die Musik. Mit meinen Liedern ist es wie mit einem Sandwich. Da kommt eine Scheibe nach der anderen drauf.

Wie reagieren die Magdeburger auf Deine Musik?
Sehr gut. Besser als in München. Bei der Sternbrücke bleiben Leute teilweise stundenlang neben mir. Besonders interessant ist die Reaktion der Kinder. Ein paar bleiben stehen und wollen am liebsten an den Saiten zupfen. Andere haben den Mund offen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass man anhand der Reaktion der Kleinkinder erahnen kann, welche Charakterzüge sie später haben werden. Und wenn es gut läuft, landet etwas im Hut.

»Mit meinen Liedern ist es wie mit einem Sandwich. Da kommt eine Scheibe nach der anderen drauf.«

Was war Deine interessanteste Begegnung in Magdeburg?
Das sind so viele. Es gibt eine unwahrscheinliche Bandbreite an Menschen in dieser Stadt. Ich müsste mal ein Tagebuch führen. Studenten sämtlicher Nationen haben mich schon begleitet. Politiker kommen vorbei. Auch Obdachlose gehören dazu. In Magdeburg kennt jeder jeden. Täglich kommen Leute vorbei, sagen ›Tach’ Matze‹ oder ›Bist du nicht der Typ von der Sternbrücke?‹ und wollen sich unterhalten. Da muss ich aufpassen, dass ich nicht die meiste Zeit vom Spielen abgehalten werde.

Worüber redet Ihr dann?
Viele denken, ich bin der Brückenpsychologe. Einige schütten mir ihr Herz aus. Am Häufigsten beschweren sich die Leute über ihre Arbeit und darüber, dass Geld allein nicht glücklich macht. Besonders Leute in höheren Positionen, bei denen man solche Probleme nie vermuten würde.

Ist Magdeburg für Dich eine musikalische Stadt?
Eher nicht. Es gibt viele Singer- und Songwriter. Mit meinem Musikgeschmack, also Punkrock und Ambient, findet man hier nichts. Nischenmusik wird in Magdeburg nicht wirklich bedient. Für mich ist hier leider wenig Spannendes dabei.

Fühlst Du Dich in Magdeburg wohl?
Ich bin kein Lokalpatriot. Ich finde es in Ordnung. Magdeburg ist eine grüne Stadt. Der Moritzhof und das Studiokino sind gut. Richtig krasse kulturelle Sachen fehlen aber. Früher gab es hier den Mikrokosmos, einen Punkrock-Schuppen und Punk-Konzerte im Heizhaus oder im Knast. Das hat alles nachgelassen. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht ist es zu schmuddelig für die Stadt.

Wo hältst Du Dich hier am liebsten auf?
Zu Hause und draußen in der Natur. Im Herrenkrugpark und in Diesdorf. Dort laufe ich gerne und fahre Fahrrad.

Wo kann man Dich, außer an der Sternbrücke, noch finden?
Bei Auftritten, am Bahnhof Magdeburg und in anderen Städten. Bis zwei, drei Grad plus spiele ich auch im Winter draußen. Das ist schon Hardcore. Da muss ich mich echt warm anziehen. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass der Job nicht auf die Knochen geht. Ich mache es aber gerne.

Ist Musizieren für Dich mehr Hobby oder Arbeit?
Arbeit klingt nach Fabrik. Hobby zu verniedlichend. Leidenschaft nach einer Liebesromanze. Ich bin das einfach. Ich möchte das am liebsten noch nach meiner Rente machen. Am Besten, bis ich aus den Latschen kippe. Meine Schullaufbahn war eher wie eine Sinuskurve, hoch und runter. Ich wüsste gar nicht, was ich sonst machen sollte. Das ist mein Ding.

Welche Projekte hast Du für die Zukunft?
Gerade habe ich mein zehntes Album Carbohydrates fertiggestellt. Alle Alben sind limitiert. Nun verschicke ich alle Vorbestellungen. Sogar Russland, Italien, Tschechien und ein Inselstaat in Asien waren schon dabei. Da möchte ich anknüpfen und noch deutlich mehr Alben produzieren. Meine Ideen müssen raus. Mein Proberaum in Cracau ist endlich fertiggestellt. Ich würde sagen, ich bin ›equipmentgeil‹. Da gibt es Da gibt es immer noch etwas, das ich gerne ausprobieren will.

Was kann man vom Beruf eines Straßenmusikers lernen?
Man überdenkt das Kategorisieren von Menschen. Oft lässt man sich von Äußerlichkeiten täuschen. Viele Menschen sind auf den zweiten Blick ganz anders. Jeder Mensch, egal welchen Bildungsgrad er mitbringt, hat Gefühle. Und Musik verbindet.

Januar 2017
Interview aus INTER.VISTA 3

Vista.schon?
Matthias Marggraff wurde 1987 in Ludwigslust, Mecklenburg-Vorpommern, geboren. In Magdeburg wuchs er auf. Nach seiner kaufmännischen Ausbildung beschloss er, das Cello zu seinem Beruf zu machen. Seit 2011 spielt er in den Großstädten Deutschlands als Straßenmusiker. Dabei erfindet Matthias das Cello durch Verstärker, Loops und elektronische Verzerrungen neu. In Magdeburg kann man ihn auf der Sternbrücke sowie am Bahnhof spielen hören. Gerade stellt er sein zehntes Album mit dem Titel Carbohydrates fertig. Für ihn ist Magdeburg annehmbar und grün. Magdeburger sind für ihn oft »wie auf Valium«.

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