Eine Bibel hält er das erste Mal in der Grundschule in der Hand. Seither ist sie zu seinem stetigen Begleiter geworden. Was er nach Feierabend macht, was für ihn Familie bedeutet und warum er viele Hundebesitzer in seiner Umgebung kennt, verrät der Magdeburger Bischof Dr. Gerhard Feige im Gespräch mit Inter.Vista.
Interview und Fotos: Marlene Wiedner
Herr Dr. Feige, ich komme aus Klötze in der Nähe von Salzwedel. Was verbinden Sie mit der Hansestadt?
Salzwedel war meine erste Stelle als Seelsorger, von 1978 bis 1981. Ich bin in Halle geboren und groß geworden. Mein Horizont reichte in etwa bis Magdeburg. Darum habe ich damals verkündet: »Ich komme nach Salzwedel, erst nach Norden und dann immer geradeaus.« (lacht) Das war die Reklame für Bommerlunder. Aber das machte deutlich, dass dort Weiten herrschten, die ich noch nicht kannte. Es war eine wunderschöne Zeit, obwohl Salzwedel damals ja im Abseits lag. Im Norden und Westen verlief die Grenze. Da verirrte sich kaum jemand mal von auswärts hin.
Waren Sie seitdem wieder in Salzwedel?
Ja, ich merke dann immer so ein Kribbeln in der Magengegend. Inzwischen hat sich Salzwedel gewaltig verändert, auch was den Verkehr betrifft. Ich bin damals mit einem Trabant schneller von Magdeburg in Salzwedel gewesen, als heute mit jedem anderen Auto. Zur Grenzsicherung waren die Straßen sehr gut ausgebaut, und jetzt fließt der LKW-Verkehr auf dieser Route. Das dauert länger.
Was blieb Ihnen aus der Zeit als Seelsorger in Erinnerung?
Motivierte Christen verstreut in einem großen Gebiet. Unsere Pfarrei erstreckte sich über unzählige Kilometer. Die Hälfte der Gemeinde lebte auf den Dörfern, die Hälfte in der Stadt. Wir waren viel mit einem Kleinbus und PKW unterwegs, um die Leute zu Gottesdiensten, zum Religionsunterricht oder den Jugendtreffs zusammenzubringen. Das war eine sehr aufwendige Arbeit.
Wie kamen Sie dazu, Theologie zu studieren?
Der Wunsch Theologie zu studieren, ist bei mir relativ zeitig aufgebrochen. Ich spielte schon im Übergang von der 8. zur 9. Klasse mit dem Gedanken. Zum einen erlebte ich eine sehr rege katholische Gemeinde, zum anderen hervorragende Seelsorger, die uns gefordert und sich mit uns intensiv beschäftigt haben. Vor allem gehörten philosophische und theologische Fragen dazu. Es war sehr niveauvoll. Sich zu DDR-Zeiten auf diese Weise mit der Welt und dem Leben auseinanderzusetzen, als Priester Menschen beizustehen, ihnen die Augen zu öffnen und ihren Horizont zu erweitern, hat mich beeindruckt.
Sind Sie christlich erzogen worden?
Ja, aber unverkrampft. Ich erinnere mich, dass meine Eltern sehr natürlich aus dem Glauben lebten und wir, meine zehn Jahre ältere Schwester und ich, auf diese Weise das Christentum eingeatmet haben.
Was meinen Sie mit »eingeatmet«?
Christentum ist ja keine Weltanschauung, sondern mehr eine Lebenspraxis. Die Kirche ist eine große Erfahrungsgemeinschaft.
Wie sind Sie in dieser Gemeinschaft gewachsen?
Der Glaube ist nichts Festes, nichts Abgepacktes, nichts Endgültiges, sondern Wegbegleiter. Glaube kann verkümmern, sich aber auch entfalten. Man macht die unterschiedlichsten Erfahrungen, positive wie negative. Mit dem Tod in Berührung zu kommen, hat mich besonders herausgefordert. Als Ministrant in der 5. Klasse habe ich zum Beispiel erstmals an einem offenen Sarg gestanden. Da war es mir eine Hilfe, das Erlebte mit dem christlichen Glauben in Beziehung zu bringen. Durch das staatliche System und die Schule wurden Glaube und Kirche lächerlich gemacht, und ich musste mich immer intensiv damit auseinandersetzen: ›Warum schwimme ich gegen den Strom?‹ Ich hätte mich ja auch anpassen können. Allmählich lernte ich auch noch andere Lebensbereiche kennen, von der Geburt bis zum Tod. In einer späteren Phase bin ich intensiver in die Wissenschaft eingestiegen, forschte und lehrte.
»Ich lebe gewissermaßen auf einer Insel der Seligen.«
Auf jeden Fall hilft es nicht, ihn zu verdrängen. Er gehört zum Leben, und egal, ob man nun Christ ist und glaubt, dass das Leben auch nach dem Tod weiter geht oder selber damit gar nichts anfangen kann, sollte man sich mit ihm auseinandersetzen.
Hatten Sie Nachteile zu DDR-Zeiten?
Bis auf die allgemeinen Einschränkungen ging es mir noch verhältnismäßig gut. Es war mir zum Beispiel möglich, mein staatliches Abitur zu machen, obwohl ich weder der Pionierorganisation noch der FDJ angehört habe. Ich bin nicht zur Jugendweihe gegangen und lehnte den Dienst mit der Waffe ab. Und dann war ich ja in kirchlicher Ausbildung, also gewissermaßen rausgenommen aus dem staatlichen System. Wir hatten eine katholische Hochschule in Erfurt, an der alle Priester in der DDR ausgebildet wurden. Diese Schule war nicht staatlich anerkannt, wurde aber geduldet. Ich lebte gewissermaßen auf einer Insel der Seligen, und wir konnten uns dort hinter geschlossenen Türen intensiv mit dem System auseinandersetzen.
Verstehen Sie Ihre Arbeit als Beruf?
Sogar als Berufung. Ich lebe darin.
Wie hat sich die katholische Gemeinde in Magdeburg verändert?
Ich bin für das Bistum, also Sachsen-Anhalt und Teile Sachsens und Brandenburgs, zuständig. Vor 1989 lebten wir unter Druck sehr zurückgezogen; darum war das Verhältnis in unseren Gemeinden auch familiärer. Nach der friedlichen Revolution ist eine offene Gesellschaft entstanden und wir mussten uns als katholische Kirche völlig neuen Herausforderungen stellen. Inzwischen verstehen wir uns als ›schöpferische Minderheit, die ökumenisch gesinnt mit anderen Partnern in der Gesellschaft kooperiert‹. Wir sagen ›ja‹ zu der Situation in der wir leben, und bringen uns mit unseren Idealen und Möglichkeiten ein. Freilich geht auch an uns die demografische Entwicklung dieser Region nicht spurlos vorüber.
Was bedeutet für Sie Familie?
Ich stamme aus einer Familie, habe aber keine so große Verwandtschaft. Über meine Schwester bin ich jedoch schon seit acht Jahren Urgroßonkel. Leider habe ich nur selten Kontakt zu meinen Angehörigen, höchstens ein bis zwei Mal im Jahr. Ich selber habe, wie bei katholischen Priestern üblich, keine Familie. Dafür habe ich mich entschieden. Ich lebe aber nicht völlig isoliert. Für einen Bischof ist auch die Gemeinde so etwas wie Familie.
Hoffen Sie, dass durch die wachsende Anzahl Muslime die Deutschen wieder mehr zum christlichen Glauben finden?
Tatsächlich können Menschen, die mit einer anderen Lebensweise kommen, dazu anregen, selbst wieder nachzudenken und existenzielle Fragen zu stellen. Schließlich ist die Situation im Osten Deutschlands sehr ungewöhnlich. Weltweit gehört Religion zum menschlichen Leben dazu, nur bei uns scheinen die meisten keine mehr zu brauchen. Von daher finde ich es schon ganz gut, dass unsere Gesellschaft durch solche Entwicklungen neu herausgefordert wird.
Was erhoffen Sie sich aus diesen Entwicklungen?
Vor allem hoffe ich, dass Integration gelingt. Wir sollten nicht alte Traditionen und Gewohnheiten als Leitkultur festschreiben, sondern Leitlinien suchen, wie wir zusammenleben wollen. Wesentliches gibt dazu das Grundgesetz vor. Dann aber müssten wir wohl auch neu klären, was unsere deutsche Gesellschaft eigentlich noch zusammenhält, welche Werte das sind. In manchem scheinen wir ziemlich auseinanderzudriften.
»Für einen Bischof ist auch die Gemeinde so etwas wie Familie.«
Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie zum ersten Mal eine Bibel in der Hand gehalten haben?
Wahrscheinlich im Rahmen des Religionsunterrichts, in der zweiten oder dritten Klasse. Zu meinem 18. Geburtstag bekam ich von meinem Vikar eine geschenkt mit der Widmung: »In der Hoffnung, dass aus Dir ein guter Exeget wird« (Exeget = Erklärer, Anm. d. Red.). Das ist so nicht eingetreten. Vielmehr wurde dann die Alte Kirchengeschichte und Ostkirchenkunde zu meinem Spezialgebiet.
Und diese Bibel haben Sie immer noch im Bücherregal stehen?
Ja, zu Hause.
Begleitet Sie ein persönlicher Vers?
Als Bischof habe ich den Wahlspruch »Wachet und betet«. Damit verbinde ich einerseits, sich leidenschaftlich für die ganze Wirklichkeit zu interessieren, andererseits aber auch sehr persönlich den Kontakt zu Gott zu suchen und dadurch Kraft zu schöpfen. Im Gebet kann man sich aussprechen, ohne zumeist freilich direkte Antworten zu bekommen.
Ist das Beten Ihre Methode mit Gott in Kontakt zu treten?
Nicht nur. Gott kann uns vielfältig begegnen. Er drängt sich aber nicht auf. Ihn zu erspüren, geht nicht ohne eine gewisse Sensibilität. Dabei spielt auch das Herz eine Rolle. Ein möglicher Erfahrungsort kann die Natur sein. Das ist mir einmal besonders aufgegangen, als ich mit einer kirchlichen Jugendgruppe in der Hohen Tatra unterwegs war, einem reizvollen Gebirge in der Tschechoslowakei. Vieles hat mich fasziniert und eigenartig berührt. Ist das – so fragt man sich dann – alles nur rein zufällig oder doch von jemandem geistvoll geschaffen? Als Christen glauben wir, dass Gott uns aber auch in der Gemeinschaft der Kirche nahe ist, in jedem Menschen uns begegnen kann und uns vor allem in den Bedürftigen zum Nächsten wird.
»Dann müssten wir neu klären, was unsere deutsche Gesellschaft eigentlich noch zusammenhält.«
Wie sieht für Sie ein typischer Arbeitstag aus?
Den gibt es bei mir nicht. (lacht) Zu einem Drittel halte ich mich im Büro auf, bearbeite Post und Emails, führe Gespräche. Das zweite Drittel ist meine Tätigkeit im Bistum. Ich bin viel unterwegs, zu Firmungen oder Jubiläen, aber auch zu intensiven Visitationenin den Pfarreien, meistens über drei Tage. Dabei sehe ich mir viel an, treffe auf Christen und Nichtchristen und führe mit Einzelnen oder Gruppen sehr unterschiedliche Gespräche. Und zum letzten Drittel: Jeder katholische Bischof ist nicht nur für sein Bistum verantwortlich, sondern hat auch Aufgaben für die katholische Kirche in Deutschland und darüber hinaus. Mein Verantwortungsbereich ist vor allem die Ökumene. Das erfordert die Teilnahme an Konferenzen und Tagungen und ist mit vielen Kilometern verbunden. Kürzlich erst hatte ich in Paderborn an der Fakultät einen Vortrag zum 500. Reformationsgedenken.
Reisen Sie gern?
Nicht mehr unbedingt häufig. Es sind weitgehend Dienstreisen. Dabei habe ich kaum Zeit, mir privat noch etwas anderes anzuschauen. Das ist sehr schade. Inzwischen bin ich dankbar, wenn ich längere Zeit mal zu Hause sein kann.
Welches Verkehrsmittel nutzen Sie, wenn Sie reisen?
Für offizielle Anlässe habe ich einen Dienstwagen und einen Fahrer. Am Anfang war das für mich völlig ungewohnt; ich empfinde das auch heute noch als nicht selbstverständlich. Aber ich bin dankbar dafür, weil ich so die Fahrten fürs Arbeiten nutzen kann. Für Reisen ins Ausland nehme ich meistens das Flugzeug. Die längste Reise war aber bisher mit dem Auto nach Lund in Schweden. Neun Stunden waren wir da unterwegs.
Haben Sie auch mal Feierabend?
Ja, das braucht jeder. Niemand kann 24 Stunden im Beruf aufgehen. Einmal im Jahr nehme ich Urlaub. Außerdem versuche ich, möglichst einen freien Tag in der Woche zu haben. Aber wenn wichtige Dinge anstehen, gebe ich dann schon einmal nach und verzichte darauf. Manchmal bleibe ich jedoch hart, weil es ohne Entspannung nicht geht und auch ich zum Beispiel einige Bewegung brauche. In letzter Zeit ist das leider zu kurz gekommen, aber sonst sehe ich zu, dass ich wenigstens einmal in der Woche schwimmen gehe.
Wie lassen Sie denn die Seele baumeln?
Naja, beim Schwimmen lasse ich sie nicht baumeln, weil ich in einer halben Stunde einen Kilometer runterschrubben möchte. (lacht) Ich höre aber gern Musik, habe gewissermaßen eine barocke Seele. Es kann aber auch moderne Musik sein, wenn sie mich anspricht. Was mir sonst noch nahe geht, ist orthodoxe Kirchenmusik. Ansonsten gehe ich gern spazieren, oftmals dann mit einem kleinen Jagdhund, der sehr quirlig ist. Er gehört meiner Haushälterin. Selber könnte ich mich sonst gar nicht um ihn kümmern. Wenn ich mit ihm aber eine Runde drehe, ist das für mich Entspannung.
Wo gehen Sie dann gern hin?
Ich mache gern die große Fachhochschulrunde. (lacht) Darüber hinaus bietet der Herrenkrug weitere günstige Möglichkeiten; man ist sofort in der Natur. Ich kenne mittlerweile viele Hundebesitzer in meiner Umgebung.
Wenn wir jetzt gemeinsam in eine Bar gehen würden, was würden Sie bestellen?
Ich überlege, ob ich jemals in einer Bar war. (lacht) Aber ich denke, ich würde einen trockenen Weißwein bestellen.
Außer dem Buch der Bücher: Haben Sie einen Lektüretipp für ein langes Wochenende?
Ich lese sehr gern Russen, vor allem Dostojewski und Lew Tolstoi. Das sind natürlich gewichtige Bücher und für ein Wochenende ziemlich viel. (lacht)
Was fasziniert Sie an diesen Autoren?
Die Tiefe des Denkens und die Gefühle, die darin zum Klingen kommen.
Gibt es eine übermenschliche Fähigkeit, die Sie gern besitzen würden?
Noch mehr Probleme lösen zu können.
Was ist Ihre erste Erinnerung an Magdeburg?
1978 bin ich in Magdeburg zum Priester geweiht worden. Aber auch schon vorher war ich einige Male hier. Besonders erinnere ich mich noch an die Tausendjahrfeier des Erzbistums Magdeburg im Jahre 1968.
Was schätzen Sie an Magdeburg besonders?
Da muss ich mir als Hallenser genau überlegen, was ich sage. (lacht) Eine Stadt, die einen größeren Fluss hat, ist immer gleich lebendiger. Das schätze ich sehr, auch wenn dieser Fluss schwerwiegende Probleme bereiten kann. An ihm gibt es auch manche idyllische Stellen. Besonders gern blicke ich von der anderen Seite der Elbe, von den Brücken, auf die Silhouette der Stadt.
Und was schätzen Sie an den Magdeburgern?
Machteburjer. (lacht) Ja, ich glaube, das sind Menschen, mit denen man gut ins Gespräch kommen kann, ob Urmagdeburger oder Zugezogene.
Wie würden Sie Magdeburg in drei Worten beschreiben?
Altehrwürdig, lebenstauglich, entwickelnswert.
Welche Botschaft haben Sie für unsere Leser?
Ich wünsche sehr, dass Magdeburg auch weiterhin eine Stadt ist, in der man friedlich miteinander leben kann, in gegenseitiger Achtung, Solidarität und Weltoffenheit.
Januar 2017
Interview aus INTER.VISTA 3
Vista.schon?
Dr. Gerhard Feige, Jahrgang 1951, ist seit 2005 Bischof in Magdeburg. 1988 promovierte er im Fach Theologie und lehrte ab 1994 als Professor für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Ostkirchenkunde an der Universität Erfurt. Dem gebürtigen Hallenser ist besonders die Ökumene ein bedeutendes Anliegen. Von stressigen Dienstreisen und langen Arbeitswochen erholt sich Feige gern in der Natur. Sein Begleiter ist dabei ein kleiner quirliger Jagdhund. Obwohl ihm die Zeit dafür oft fehlt, liest der Bischof gern die Werke von Lew Tolstoi und Dostojewski oder genießt den Blick auf Magdeburgs Altstadt.
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